Experimentierklausel in Kliniken

Bei fehlender Evidenz müssen Kassen nur für genehmigte Erprobung zahlen

Das Bundessozialgericht verweigert einer Patientin die Kostenerstattung für eine therapeutische Fettabsaugung. Das heißt: Der den Kliniken vom Gesetzgeber zuletzt wieder eingeräumte Freiraum für alternative Operationsmethoden wird höchstrichterlich nicht anerkannt.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Die Fettabsaugung zählt zu den häufigsten schönheitschirurgischen Eingriffen bei Frauen. Als medizinisch indizierte Behandlungsalternative müssen die Kassen laut BSG diese Op aber nur im Erprobungsverfahren zahlen, sonst nicht.

Die Fettabsaugung zählt zu den häufigsten schönheitschirurgischen Eingriffen bei Frauen. Als medizinisch indizierte Behandlungsalternative müssen die Kassen laut BSG diese Op aber nur im Erprobungsverfahren zahlen, sonst nicht.

© Uwe Anspach / dpa

Mit einem wichtigen Urteil zur Liposuktion hat das Bundessozialgericht jetzt die Experimentierklausel für Krankenhausbehandlungen weitgehend eingeschränkt. Wie kurz berichtet, hatte das BSG entschieden, dass die gesetzlichen Krankenkassen eine stationäre Liposuktion in der Regel nicht bezahlen müssen. Auch wenn diese "das Potenzial einer Behandlungsalternative" habe, gelte dennoch das generelle Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot. Das neue Urteil des für Krankenhausleistungen inzwischen alleinzuständigen Ersten BSG-Senats steht vor dem Hintergrund einer langen Geschichte der gesetzlichen Experimentierklausel.

Im Gegensatz zu Arztpraxen war danach den Krankenhäusern früher jede nicht ausdrücklich verbotene Behandlung erlaubt. 2008 bis 2012 hatte der Gesetzgeber die Experimentierklausel dann mit mehreren Neuregelungen beschränkt. Unter anderem sollte danach der GBA aber bestimmte Behandlungsmethoden auf Antrag der Kliniken oder der Kassen modellhaft erproben lassen, die nach bisherigen Erkenntnissen "das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten".

Seit 2015 wieder mehr Freiheiten

Die damals noch zwei zuständigen BSG-Senate reagierten auf die gesetzlichen Neuerungen mit einer restriktiven Rechtsprechung. Von der Experimentierklausel blieb den Krankenhäusern kaum mehr als die nur in Abhängigkeit vom GBA möglichen Erprobungsverfahren.

Dem Gesetzgeber war diese Rechtsprechung dann doch zu restriktiv. 2015 fügte er einen weiteren Absatz ins Sozialgesetzbuch ein, der eine Lockerung bringen sollte. Dort heißt es: "Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung (nach dem Erprobungsverfahren) getroffen hat, dürfen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist."

Auf diese Neuregelung stützten sich nun zwei Patientinnen in Sachen Liposuktion. Der GBA habe hier ein Erprobungsverfahren eingeleitet und damit bestätigt, dass die Behandlung zumindest "das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative" biete. In einem der beiden Verfahren entschied nun das BSG, dass die Kassen im Rahmen der Aufnahmebedingungen ihren Versicherten die Chance zur Teilnahme an dem Erprobungsverfahren geben müssen. Für die Liposuktion sollte dies entsprechend dem GBA-Beschluss am 10. April dieses Jahres beginnen.

Das zweite Verfahren brachte nun ein Grundsatzurteil zur Experimentierklausel: Denn im Ergebnis übergingen die Richter die Gesetzesänderung von 2015 und hielten an ihrer restriktiven Rechtsprechung aus der Zeit davor fest. Die Klägerin aus Baden-Württemberg hatte starke Schmerzen und erhebliche Einschränkungen ihrer Beweglichkeit durch Fettablagerungen von rund acht Litern je Bein. Nach erfolglosem Antrag auf Liposuktion als Sachleistung hatte sie drei Operationen auf eigene Rechnung vornehmen lassen. Mit ihrer Klage forderte sie von ihrer Kasse die Kostenerstattung, insgesamt 11.363 Euro.

Gesetzesbegründung interessiert nicht

Das BSG wies die Klage jedoch ab. Über eine hier nun nicht mehr mögliche Teilnahme am Erprobungsverfahren hinaus bestehe ein Anspruch auch auf stationäre Liposuktion nicht, "da diese nicht den Anforderungen des Qualitätsgebots entspricht". Die Nachhaltigkeit der Behandlung sei nicht belegt. Ihre Argumentation stützen die Kasseler Richter darauf, dass der Gesetzgeber trotz der angestrebten Lockerung keine Abstriche vom Qualitäts- und Evidenzerfordernis gemacht, sondern vielmehr daran festgehalten habe, dass die Behandlung "medizinisch indiziert und notwendig" sein muss. Das Qualitätsgebot sichere nicht nur die Wirtschaftlichkeit, sondern auch die Gleichbehandlung in der GKV und gewährleiste, "dass eine nicht ausreichend erprobte Methode nicht zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden darf".

Damit übergeht der Erste BSG-Senat das in der Gesetzesbegründung formulierte Ziel, mit der Neuregelung die Grundlage für eine liberalere Rechtsprechung zu schaffen. "So weit die Gesetzesmaterialien zu einem abweichenden Ergebnis führen, kommt dem Gesetzeswortlaut, dem Regelungssystem und dem Regelungsziel der Vorrang zu", so die Kasseler Richter. Nach Meinung auch kritischer Experten ist dieses Ergebnis nicht zwingend, aber vertretbar. Diese Einschätzung ist wichtig auch vor dem Hintergrund einer Strafanzeige wegen Rechtsbeugung, die eine Berliner Klinik wegen früherer Urteile gegen die Richter des Ersten BSG-Senats gestellt hat. Zum Stand dieses Verfahrens macht die Staatsanwaltschaft Berlin noch keine Angaben.

Bundessozialgericht

Az.: B 1 KR 10/17 R (Erprobungsverfahren) und B 1 KR 10/17 R (Leiturteil)

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