Leitartikel zur Richtgrößenvereinbarung

Verhandlung auch noch vor dem Beschwerdeausschuss

Die 2004 eingeführte Individuelle Richtgrößenvereinbarung ist insbesondere in den West-KVen kaum bekannt. Ein aktuelles Urteil des Bundessozialgerichts macht die Vereinbarung attraktiver und könnte dies daher ändern.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Die Stricke müssen nicht reißen. Ärzte können mit einer individuellen Richtgrößenvereinbarung einem Regress entgehen.

Die Stricke müssen nicht reißen. Ärzte können mit einer individuellen Richtgrößenvereinbarung einem Regress entgehen.

© Steinach/imago

Während etwa die Prüfgremien in Sachsen seit 2008 Ärzten, die in einen Regress laufen, eine Individuelle Richtgrößenvereinbarung (IRV) anbieten, taucht sie in den Prüfvereinbarungen etwa der KVen Nordrhein und Westfalen-Lippe nicht einmal auf.

Ausgerechnet ein Streitfall aus Sachsen könnte nun aber die 2004 eingeführte IRV auch im Westen aus dem "Dornröschenschlaf" erwecken, erwartet der Klägervertreter und Dortmunder Fachanwalt für Medizinrecht, Lars Wiedemann.

Denn wie kürzlich das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel entschied, können Ärzte auch noch vor dem Beschwerdeausschuss Verhandlungen über eine IRV verlangen, wenn die Prüfstelle bereits einen Regress verhängt hat (Az.: B 6 KA 46/12 R).

Ärzte müssen nicht mehr auf Regressbrief warten

Laut Gesetz soll die IRV "eine wirtschaftliche Verordnungsweise des Arztes unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten" gewährleisten. Ärzte können sich also nicht wie früher erst rückwirkend gegen einen Regress wehren.

Sie können ihre Praxisbesonderheiten auch offensiv vortragen und über eine für vier Quartale gültige IRV verhandeln.

Das gibt Planungssicherheit, führt aber auch zu einer festeren Bindung, warnt Marc Sendowski, Fachanwalt für Medizinrecht in Leipzig und Vorsitzender des Beschwerdeausschusses der KV Sachsen.

Denn wird auch die individuelle Richtgröße überschritten, können sich Ärzte nicht mehr auf weitere Praxisbesonderheiten berufen.

Wurde eine IRV getroffen, gilt es daher, schnell zu reagieren, etwa wenn ein neues Medikament auf den Markt kommt, das wirksam aber teuer ist. Ärzte mit IRV müssen ihre Vereinbarung dann sofort Neuverhandlungen verlangen.

Gerade ältere Ärzte, die nicht wie ihre jüngeren Kollegen mit moderner Praxissoftware arbeiten, könnten dies leicht vergessen, weiß Sendowski.

Inwieweit eine Kündigung noch für die laufende Vereinbarung greift, ist umstritten. Während in Sachsen die Prüfvereinbarung eine "Nachmeldung von Praxisbesonderheiten" ausdrücklich erlaubt, äußern sich das Gesetz und wohl auch die meisten Prüfvereinbarungen hierzu nicht.

Jedenfalls in Extremfällen wird für beide Seiten eine "Kündigung aus wichtigem Grund" wohl immer möglich sein. Sendowski rät, gegebenenfalls auch dies in der Vereinbarung zu regeln.

Neben dem Blick in die Zukunft umfasst eine IRV auch den Blick zurück. Laut Gesetz sollen die Prüfgremien von Regeressen absehen, "soweit" eine IRV getroffen wird. In der Praxis sehen die Prüfgremien der neuen Länder von einem Regress meist ganz ab.

Ob auch ein Verzicht auf zurückliegende Regresse nur insoweit möglich ist, als das Verordnungsvolumen die nun festgesetzte individuelle Richtgröße nicht überschritten hat, ist ebenfalls umstritten.

In jedem Fall aber macht dieser Blick zurück das BSG-Urteil besonders interessant. Ein Allgemeinarzt aus Sachsen hatte 2005 das Richtgrößenvolumen um 102 Prozent überschritten. Damals noch der Prüfungsausschuss setzte einen Regress fest.

Daraufhin machte der Arzt Praxisbesonderheiten geltend und verlangte den Abschluss einer IRV. Der Beschwerdeausschuss wies den Widerspruch jedoch ab: Eine IRV sei nicht mehr möglich, weil bereits ein Regress festgesetzt gewesen sei.

Beschwerdeausschuss muss mit Arzt verhandeln

Wie nun das BSG entschied, muss aber auch der Beschwerdeausschuss über eine IRV verhandeln, wenn der Arzt dies verlangt. Hintergrund ist die bisherige Rechtsprechung, wonach der Beschwerdeausschuss als "zweite Verwaltungsinstanz" jeden Fall umfassend neu verhandeln und prüfen kann.

Er habe "grundsätzlich dieselben Befugnisse wie die Prüfungsstelle" und könne daher eine komplett eigenständige Entscheidung treffen, erklärten die Kasseler Richter nun auch zu ihrem neuen Urteil.

Als Konsequenz bieten Verhandlungen über eine IRV nach dem Grundsatz "Beratung vor Regress" eine weitere Chance, aus einem Regress herauszukommen.

Sie dürften daher für Ärzte besonders interessant werden, wenn Ärzte nach erstmaliger Überschreitung bereits eine "Beratung" erhalten haben und trotzdem bei regressrelevanten Verordnungsgrößen bleiben, betont Rechtsanwalt Wiedemann.

Allerdings müssen Ärzte hierfür selbst aktiv werden. Denn nach dem Kasseler Urteil müssen die Prüfgremien nicht von sich her eine IRV anbieten - sofern nicht, wie in Sachsen seit 2008, die Prüfvereinbarung dies vorsieht.

Bundesweit werden Ärzte nun wohl häufiger den Wunsch nach einer IRV äußern. Für die Prüfgremien dürfte dies zu einer nicht unproblematischen Herausforderung werden, meint Rechtsanwalt Sendowski.

Allerdings gibt es für die Ärzte keine Sicherheit, so einen Regress zu umgehen. Denn ein Anspruch auf Abschluss einer IRV besteht nicht. "Wird keine Vereinbarung erzielt, sind die Verhandlungen gescheitert", so das BSG.

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