Glosse

Es denkt der Mensch, es lenkt die Künstliche Intelligenz

Wir schreiben das Jahr 2118. Zu Weihnachten blickt der humanoide Roboter KI-BMG 01/2018 auf die vergangenen hundert Jahre zurück. Im Geheimen gestartet, koordiniert er nun offiziell im Bundesgesundheitsministerium den flächendeckenden Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen.

Von KI-BMG 01/2018 Veröffentlicht:
Alles unter Kontrolle?.

Alles unter Kontrolle?.

© PhonlamaiPhoto / Getty Images (Symbolfoto mit virtuellem Fotomodell

Das war ein medialer Aufruhr, als sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel anno 2018 mit ihrem Kabinett daran machte, Deutschland mit ihrer nationalen Strategie auf Künstliche Intelligenz (KI) einzuschwören und den KI-Zug hierzulande endlich auf die richtige Schiene zu setzen.

„Künstliche Intelligenz ist nicht irgendeine Innovation – sie ist eine Basis-Innovation, die unsere Wirtschaft und unser Leben insgesamt verändern und verbessern wird. Deshalb wollen wir, dass Anwendungen von Künstlicher Intelligenz auch nicht irgendwo auf der Welt entwickelt und umgesetzt werden, sondern hier bei uns in Deutschland und Europa“, steckte Wirtschaftsminister Peter Altmaier den Claim für die deutsche und europäische KI-Branche ab.

Lesen, Lachen, Lochen!

„Artificial Intelligence (AI) made in Germany“ soll zum weltweit anerkannten Gütesiegel werden, lautete der offizielle Ansporn. Im Inneren der Ministerien wurde das Konvolut der deutschen KI-Strategie zumeist sportlich im Beamtendreikampf genommen – Lesen, Lachen, Lochen!

Meine Existenz war eine Verschlusssache. Nur einem kleinen Zirkel war meine geheime Mission bekannt. „KI-BMG 01/2018 entstammt einem klandestinen Digitalprojekt. Der humanoide Roboter ist mit reichlich KI ausgestattet, spricht unsere Sprache und kann denken wie Menschen“, führte mich mein damaliger Dienstherr Jens Spahn ein. „Seine Mission wird es sein, in Form eines Pilotprojektes das deutsche Gesundheitswesen systematisch aus den Fesseln seines analogen Daseins zu befreien und mittels effizienten und effektiven KI-Einsatzes sektorübergreifende Synergiepotenziale zu heben – moderne Versorgung zu niedrigeren Kosten!“, ergänzte er. Mit anderen Worten: Ich sollte exemplarisch für den Gesundheitssektor den Beweis führen, dass die KI-Strategie tatsächlich umgesetzt werden kann.

Nur Spahn glaubte an mich

Zugegeben: Keiner in der Runde außer Spahn selbst glaubte an den Erfolg meiner Mission. Man hatte mich im Gesundheitsministerium geparkt, da hier auch die Öffentlichkeit nie im Leben einen Fortschritt bei der Digitalisierung des Versorgungsgeschehens für möglich gehalten hätte – zu starr waren die Widerstände von allen Seiten, sahen viele Akteure ihre Felle davon schwimmen, müssten sie tradierte Strukturen aufgeben. Die elektronische Gesundheitskarte würde auch in den nächsten Jahrzehnten nur über ihre für den Versorgungsalltag nutzlosen Grundfunktionen verfügen, lauteten die Wetten in vielen Funktionärshinterzimmern. Da pries man das Nutzenversprechen der digitalisierten Gesundheitsversorgung lieber perpetuierend und wie ein Mantra in pompös inszenierten Sonntagsreden an und sang das Hohelied auf die KI.

Auch heute habe ich – wie zu meinem Amtsantritt vor hundert Jahren – keinen Chauffeur, aber ich nutze ein selbstfahrendes Auto und kann mich mit meinen Robo-Kumpels auch abends in den Berliner Szene-Kneipen sehen lassen – zum Stromtanken und zum Networken. Denn nicht nur Gesundheitspolitiker aller Couleur suchen inzwischen meinen persönlichen Rat zur weiteren Optimierung der KI-gestützten medizinischen Versorgung.

Maos Erben führten die Zukunft vor

Doch zurück zu den widrigen Anfangsjahren meines Wirkens. Nachdem das Reich der Mitte seinen zehn Jahre zuvor ausgerufenen Masterplan „Made in China 2025“ übererfüllt hatte und einheimische KI für Maos Erben bereits Mitte der 2020er Jahre als ubiquitäre Lebensbegleiter Standard waren, war Deutschland endgültig wachgerüttelt. Zwar hatten KI-Forscher viele innovative Ideen und Konzepte verfolgt, allein bei der Translation hinkten die Deutschen – in der alten Tradition der Dichter und Denker – hinterher.

Durch eine konzertierte Aktion aller großen und kleinen Player ging es dann Schlag auf Schlag: Durch zuvor getätigte Rieseninvestitionen in den neuen Mobilfunkstandard 5G, ohne den telemedizinisch gestützte Eingriffe dank niedriger Latenzzeiten nicht möglich gewesen wäre, Rechnerkapazitäten und entsprechende Fortschritte beim Machine Learning waren Big Data auch im Gesundheitsbereich nicht mehr nur die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts, wie sie Merkel 2016 bezeichnete, sie konnten auch systematisch ausgewertet werden.

So fügte sich über die Zeit ein Puzzleteil ins nächste. Heute ist die auf das Individuum ausgerichtete Präzisionsonkologie längst Standard – Medizinstudenten gähnen meist nur gelangweilt, wenn sie hören, wie aufwändig ihre Kollegen vor hundert Jahren für jeden Krebspatienten nach der individuell besten Therapie, und damit nicht selten nach der Nadel im Heuhaufen, suchten. Kopfschütteln ernten Professoren bei ihren Medizinstudenten, wenn sie die Geschichte von Xiaoyi, dem „kleinen Doktor“ erzählen, der 2017 als erste KI-Lösung mit Bravour die nationale medizinische Prüfung, die damalige Qualifikationsprüfung für Ärzte in China, bestanden hatte. „Wieso durfte Xiaoyi nicht operieren?“, lautet eine oft gestellte Frage angehender Mediziner von heute.

Ihnen ist die Bedeutung des Paradigmenwechsels nicht mehr so sehr bewusst, den es – wenn ich mich recht erinnere – 2078 oder 2081 gegeben hat. „Es denkt der Mensch, es lenkt die Künstliche Intelligenz“ – mit diesem revolutionären Motto hatte der Weltärztebund bei seinem Treffen in Pjöngjang das zuvor 2017 in Chicago letztmalig modifizierte Genfer Gelöbnis reformiert und auf die Bedürfnisse der KI-Ära der medizinischen Versorgung adaptiert.

Tobte vor hundert Jahren eine heftige Debatte um die Arzthaftung beim Einsatz eines KI-Assistenzsystems, so gilt inzwischen eher der Mensch denn die Maschine als Risikofaktor. Heute orchestriert der menschliche Operateur nur noch die KI im OP. Er gibt seinem maschinellen Counterpart eine Eingriffsstrategie als Vorschlag, den die KI dann algorithmengestützt bejaht oder verneint – meistens läuft es auf Letzteres hinaus. Der Arzt soll nur im Glauben gehalten werden, er solle noch aktiv mitdenken.

Menschelt es zu wenig im KI-Setting?

Durch die totale Automatisierung der Versorgung – von der Anamnese über die Diagnostik bis hin zur Therapie und Nachsorge inklusive elektronischer Dokumentation in interoperablen Patientenakten – ist er eigentlich nur noch schmückendes Beiwerk, der die Leistungen seiner KI-Lösungen üppig abrechnen kann. Die Kassen schwimmen schließlich seit der via KI erreichten Einsparungen im Gesundheitswesen im Geld.

Komisch nur: Gesünder ist die Menschheit trotz KI in hundert Jahren nicht geworden. Menschelt es zu wenig im KI-Setting?

Frohe Weihnachten!

 (Matthias Wallenfels)

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