Eckpunkte vorgestellt

Regierung will Netz von 1000 Gesundheitskiosken aufbauen

Die Chancen auf Gesundheit sind ungleich verteilt und in sozial benachteiligten Regionen herrscht Ärztemangel. 1000 Gesundheitskioske sollen das ändern: Die Bundesregierung plant sie als erste Anlaufstellen für Gesundheits- und Sozialberatung.

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Soll nach dem Willen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach Schule machen: Der Gesundheitskiosk, hier im Hamburger Stadtteil Billstedt-Horn.

Soll nach dem Willen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach Schule machen: Der Gesundheitskiosk, hier im Hamburger Stadtteil Billstedt-Horn.

© Dirk Schnack

Hamburg/Berlin. Es ist ein Prestigeprojekt von Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD). Geht es nach ihm, soll in Deutschland bald ein Netz von 1000 Gesundheitskiosken aufgebaut werden, die in medizinisch unterversorgten Regionen und sozial benachteiligten Stadtteilen Gesundheitsberatung anbieten, die Prävention verbessern und Patienten als Lotsen durch den Dschungel des medizinischen Betriebs helfen. Vorbilder gibt es in Finnland, den USA oder Kanada.

Beim Besuch des bundesweit ersten Gesundheitskiosks im Hamburger Stadtteil Billstedt präsentierte der SPD-Politiker am Mittwoch Eckpunkte, wie das im Koalitionsvertrag vereinbarte Projekt ausgerollt werden kann.

Innovative Idee

Der vom Ärztenetz Billstedt-Horn und weiteren Partnern, darunter drei Krankenkassen, aufgebaute Gesundheitskiosk ist ein Paradebeispiel für Innovation im Gesundheitswesen. Das Ziel: Durch Vernetzung von Ärzten, Pflegeheimen, Hebammen, Sportvereinen, Schulen, Volkshochschule und Krankenkassen die Eigenverantwortung von Patienten zu stärken und die Ärzte zu entlasten.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) aus Ärzten, Krankenkassen und Experten hat das Projekt drei Jahre lang aus seinem Innovationsfonds gefördert und anschließend allen Gesundheitsministerien der Länder und des Bundes den Aufbau empfohlen.

Viel zu häufig sind Gesundheit und Lebenserwartung vom sozialen Status abhängig. Lauterbach sagte dazu in Hamburg, in Deutschland dürfe weder der Geldbeutel noch der Wohnort über die Behandlung von Patientinnen und Patienten entscheiden. Gesundheitskioske könnten dabei einen entscheidenden Unterschied machen. „Selbst in strukturell schwachen Gebieten sollen alle die Möglichkeit haben, schnell und kompetent in Gesundheitsfragen beraten zu werden und unbürokratisch Hilfe zu erhalten.“

In Billstett und Horn leben 20 Prozent der Einwohner von Sozialleistungen, 54 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Die Menschen im Stadtteil leiden viel häufiger und früher an chronischen Krankheiten als der Hamburger Durchschnitt. Der Ärztemangel ist groß. Im Durchschnitt versorgen 1,25 Ärzte 1000 Einwohner - weniger als die Hälfte des Hamburger Durchschnitts mit 2,59 Ärzten je 1000 Einwohner. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die Zahl der Notaufnahmen in den Kliniken seit Jahren steigt.

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Langer Atem war notwendig

Dabei dauerte es Jahre, bis der Kiosk zu dem wurde, was er heute ist. Es begann 2012. Rund fünf Jahre später wurde der Gesundheitskiosk in einem ehemaligen Ramschladen neben einem Einkaufscenter eröffnet: drinnen ein schicker Tresen, mehrere Sprechzimmer und ein Gymnastikraum mit Hula-Hoop-Reifen.

Drum herum ein Netzwerk von Ärzten, Pflegekräften und Sozialarbeitern. Der Gesundheitskiosk arbeitet nach eigener Darstellung mit über 100 Einrichtungen im Stadtteil zusammen. Seit 2018 gibt es das kostenlose Angebot; im ersten Jahr wurden mehr als 3000 Beratungen geleistet.

Prävention wird großgeschrieben. Die Beraterinnen und Berater führen auf ärztliche Veranlassung Untersuchungen wie Blutdruckmessungen oder Impfungen durch, vermitteln Behandlungen in Arztpraxen und Krankenhäusern, begleiten chronisch Kranke, beraten beim Abnehmen oder bei der Raucher-Entwöhnung - möglichst in der Muttersprache der Kunden.

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Eine Studie des Hamburg Center for Health Economics hat ergeben, dass eine Beratung a la Billstedt sogar Kosten im Gesundheitswesen senken könne, zum Beispiel im Hinblick auf weniger Arztbesuche und geringere Ausgaben für Arzneimittel. Auch die Zahl der Krankenhausbehandlungen konnte nachweislich gesenkt werden, weil sich Patienten nicht sofort auf den Weg in die Kliniken begaben, sondern die Arztpraxen in der Nähe wählten.

Insgesamt erfassten die Wissenschaftler einen Rückgang der vermeidbaren Krankenhausfälle im Vergleich zu den anderen Stadtteilen Hamburgs um fast 19 Prozent. Zeitgleich stieg die Anzahl der Arztbesuche in Billstedt und Horn im Vergleich zu den anderen Stadtteilen Hamburgs um durchschnittlich 1,9 Besuche pro Versichertem und Jahr.

Unionspolitiker: Ärztemangel auf dem Land angehen!

Die Union erinnerte Gesundheitsminister Lauterbach am Mittwoch daran, dass außer den medizinisch unterversorgten sozialen Brennpunkten in Großstädten der Ärztemangel auf dem Land eine der Hauptaufgaben sei, die gelöst werden müssten. Auch bedürfe es eines „nationalen Kraftakts, um weitere Medizinstudienplätze auszuweisen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Sepp Müller. Nur so könne der Ärztemangel behoben werden. „Da vermisse ich die Initiative des Bundesgesundheitsministers.“

Der AOK-Bundesverband begrüßte den Vorstoß Lauterbachs, stieß sich aber an den Plänen zur Finanzierung der Kioske. Die Kassen hier den Löwenanteil in Höhe von 74,5 Prozent tragen zu lassen, sei angesichts der prekären GKV-Finanzlage nicht machbar. Eine Beteiligung der Kommunen an der Finanzierung in Höhe von 20 Prozent reiche nicht aus. Unklar bleibe auch, warum der Anteil der Privaten auf lediglich 5,5 Prozent begrenzt bleiben solle. (KNA/hom)

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