Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin stark überschätzt

BERLIN (gvg). Wie bei der Gen- und Stammzellforschung, so liegen auch bei der Reproduktionsmedizin die vielversprechenden und die ethisch und medizinisch fragwürdigen Entwicklungen sehr eng beieinander. Die Darstellung der Reproduktionsmedizin in den Medien ist häufig geprägt von den Erfolgsgeschichten der Zunft, vor allem von der Geburt sehnlich erwünschter Kinder nach jahrelanger Kinderlosigkeit.

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Die in Deutschland verbotene Prä-implantationsdiagnostik (PID) wird in diesem Zusammenhang immer wieder als ein Mittel dargestellt, um künftig die Chancen auf eine erfolgreiche in-vitro-Fertilisation (ivF) noch zu erhöhen. Weniger diskutiert werden die Probleme einer ständig zunehmenden Zahl an Frühgeborenen und die ethischen Konflikte, die eine Diagnostik vor der Implantation erzeugt.

Über 2000 Bundesbürger haben an der Umfrage teilgenommen

Eine Arbeitsgruppe um Professor Elmar Brähler von der Abteilung für Medizinische Psychologie der Universität Leipzig hat jetzt eine repräsentative Umfrage vorgelegt, in der die Einstellungen der Allgemeinbevölkerung zu den modernen Fortpflanzungstechniken und das Wissen über diese Verfahren untersucht wurden.

Die Befragung, an der über 2000 Deutsche im Alter zwischen 18 und 50 Jahren teilnahmen, ist Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsvorhabens "Einstellungen und Wissen zu kontroversen Fragen der Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik". Sie offenbart in der breiten Bevölkerung erschreckend ungenaue Vorstellungen über die modernen Fortpflanzungstechniken. Die Tendenz: Sowohl die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin als auch der Bedarf an solchen Maßnahmen werden stark überschätzt.

Erfolgsrate bei ivF wird viel zu hoch eingeschätzt

"Viel zu hoch eingeschätzt wird zum Beispiel die durchschnittliche Erfolgsrate der ivF", sagte Brähler bei der ersten Präsentation der Umfrageergebnisse in Berlin. Mehr als jeder dritte Befragte war der Ansicht, daß die Chance, nach einem einzigen Behandlungszyklus schwanger zu werden, größer sei als fünfzig Prozent. Und ein weiteres Drittel siedelte sie zwischen 25 und fünfzig Prozent an. "Tatsächlich wird gemäß Daten aus dem deutschen ivF-Register nach dem ersten Behandlungszyklus nicht einmal jede achte Frau schwanger", so Brähler.

Drastisch zu hoch veranschlagt wird offenbar auch die Häufigkeit der ungewollten Kinderlosigkeit und damit der Bedarf an reproduktionsmedizinischen Maßnahmen. Jeder fünfte sei ungewollt kinderlos, so schätzten die meisten. Tatsächlich hatte von den zweitausend Befragten nur etwa jeder hundertste dieses Problem. Brähler schränkt hier allerdings ein: "Wir haben eine Querschnittsuntersuchung gemacht, die das Ausmaß des Problems Unfruchtbarkeit über die gesamte Lebenszeit unterschätzt".

Viele der Befragten hatten von PID noch nichts gehört

Eines der Schwerpunkt-Themen der Leipziger Erhebung bildete die PID, und auch hier wurden große Wissenslücken offenbar. Das sahen die Befragten allerdings genauso: Mehr als die Hälfte gab an, von der PID noch "nichts gehört, gesehen oder gelesen" zu haben. Und von denen, die von der PID schon einmal gehört hatten, schätzte fast die Hälfte ihr Wissen als "schlecht" oder "sehr schlecht" ein.

Das spiegelte sich auch in den Antworten auf konkretere Fragen wider. "Ein Großteil der Befragten glaubt, daß die PID zur Feststellung von allen Arten von Krankheiten oder Beeinträchtigungen dienen kann. Und jeder fünfte hält bereits heute Körpermerkmale wie Größe, Augen- und Haarfarbe für feststellbar", faßte Brähler zusammen. Hinsichtlich der ethischen Aspekte der PID scheinen deutsche Bürger außerdem weniger reserviert zu sein als ihre Politiker: Drei von vier Befragten würden die PID zur Erkennung schwerer Erkrankungen bei Kindern zulassen, zur Auswahl des Geschlechts allerdings nicht einmal jeder zehnte.

Brähler interpretiert die Ergebnisse seiner Befragung als Ausdruck des verzerrten Bildes, das von der Reproduktionsmedizin in der Öffentlichkeit gezeichnet wird. "Modernen Fortpflanzungstechnologien wird zuviel zugetraut", so der Wissenschaftler. Vor allem im Fernsehen, in Magazinen und im Internet finde man zum Teil abenteuerliche Berichte über die Erfolge der Reproduktionsmediziner, berichtete Brähler.

Tatsächlich gab mehr als die Hälfte der Befragten an, das Wissen über die Reproduktionsmedizin überwiegend aus dem Fernsehen zu haben. Ein weiteres Viertel nannte Zeitschriften als wichtigstes Informationsmedium. Ganz anders allerdings die "Wunschliste": Hier steht der Experte ganz vorne. Jeder zweite würde sein Wissen gerne in Experten-Gesprächen vertiefen.

Fazit: Den modernen Fortpflanzungstechnologien wird von den meisten Deutschen zuviel zugetraut. Der Bedarf an reproduktionsmedizinischen Maßnahmen wird genauso überschätzt wie deren Erfolgsaussichten. In Sachen PID ist die Bevölkerung offenbar weniger skeptisch als bisher angenommen.

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