Amok im Kopf

So ticken Amokläufer

Narzissten, Querulanten, Rächer: Amoktäter sind meistens schon vor der Tat psychisch auffällig. Jetzt gibt es zur Tatverhinderung eine Anlaufstelle, an die sich potenzielle Amokläufer wenden können – und ihre Angehörigen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Können Mediziner Amokläufe durch Profiling voraussagen?

Können Mediziner Amokläufe durch Profiling voraussagen?

© Markus Bormann / Fotolia

BERLIN. In diesem Fall ist es noch einmal gut gegangen: Das Krisenteam einer Schule meldete sich beim Beratungsnetzwerk Amokprävention der Universität Gießen, weil sich ein 16-jähriger Schüler seit einiger Zeit mit Amokfällen, Tod und Waffen beschäftigte und daraus in der Schule auch keinen Hehl machte.

Die Polizei wurde zunächst nicht verständigt – aus Angst, der reiche Vater könnte den Jungen dann einfach auf eine andere Schule schicken, ohne das Problem zu lösen. Die Analyse der Persönlichkeit und der Umstände ergab für das Team um Professor Britta Bannenberg genug Verdachtsmomente: Die Polizei wurde dann doch eingeschaltet, um dem Jungen auf den Zahn zu fühlen.

Das erläuterte die Kriminologin beim DGPPN-Kongress in Berlin (Britta Bannenberg, Gießen. Amoktaten und Mehrfachtötungen durch junge und erwachsene Täter – Gemeinsamkeiten und Unterschiede; Relevanz psychischer Störungen. Kongress der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 23.–26. November).

Rache für empfundene Kränkungen

Gerade junge Täter zeigten oft schon im Vorfeld psychopathologische Auffälligkeiten. Zusammen mit einer langfristigen, oft über Monate dauernden Planung der Tat, deren Ankündigung im Internet oder gegenüber anderen Schülern, ließen sich häufig Hinweise auf einen anstehenden Amoklauf finden.

Zu beachten sei natürlich, dass nicht jeder mit Tötungsfantasien dazu bereit oder in der Lage sei, diese umzusetzen, erläuterte Bannenberg.

Hilfreich könnte daher die Analyse bisheriger Amokläufe sein. Die Kriminologin verwies auf das Verbundprojekt TARGET (Tat- und Fallanalyse hochexpressiver zielgerichteter Gewalt), das unter anderem 22 Amokläufe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland untersucht hat – darunter auch die Massaker von Erfurt, Emsdetten und Winnenden.

Als Amok wird hier der Versuch verstanden, in kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu töten. Diese Delikte wurden mit elf Mehrfachtötungen junger Menschen verglichen, bei denen andere Motive von Bedeutung waren, etwa Eifersucht oder Streit im Bekannten- und Familienkreis.

Anderes Verhalten als Vergleichsgruppe

Im Gegensatz zu dieser Vergleichsgruppe lebten die jungen Amokläufer vor der Tat meist sozial zurückgezogen, waren seltener dissozial, impulsiv oder aggressiv, dafür aber oft emotional kalt, sehr von sich selbst eingenommen und ausgeprägt narzisstisch.

Zumeist fühlten sie sich gekränkt, unverstanden und missachtet. "Sie inszenieren ihre Tat als Rache für subjektiv erlebte Kränkungen", sagte Bannenberg.

Die Rache bezieht sich bei Amokläufern in der Regel aber nicht auf einzelne Personen, eher auf die Gesellschaft: Sie machen andere für ihr Unglück verantwortlich, neiden anderen das angebliche Glück, beginnen still zu hassen.

In Computerspielen finden sie oft ein Ventil für ihre Tötungsphantasien, im Internet Gleichgesinnte. Im Gegensatz zu den Tätern aus der Vergleichsgruppe planten Amokläufer ihre Tat langfristig und kündigten sie häufig auch an, um sie dann medienwirksam umzusetzen.

Überschneidung mit Terrorismus

Dabei gibt es nach Ansicht von Bannenberg klare Überschneidungen mit terroristischen Taten. Neben einem Hass auf die Gesellschaft und Rachegefühlen steht gerade bei jungen Tätern auch der Ruhm im Vordergrund: Sie wollen mit ihren Taten bekannt werden und nicht selten ihre Idole übertrumpfen.

So planten die beiden Täter des Amoklaufs an der Columbine High School in Colorado im Jahr 1999 mit diversen Sprengsätzen die Opferzahl des Bombenanschlags von Oklahoma City im Jahr 1995 noch zu übertreffen. Letztlich ermordeten sie 13 ihrer Mitschüler und Lehrer aber mit Schusswaffen.

Das Columbine-Massaker diente seinerseits wiederum als Blaupause für diverse andere School-Shootings. Im Internet kursieren noch immer die Bilder von der Überwachungskamera aus der Columbine-Schulcafeteria, in einschlägigen Internetforen werden die beiden Täter als Helden gefeiert, manche wetteifern darum, wer mit Computerspielsimulationen das Massaker am detailgetreusten nachbildet.

Psychotisch bedingter Hass

Auch der Täter des diesjährigen Amoklaufs von München hatte sich zuvor intensiv mit solchen School-Shootings beschäftigt, er besuchte sogar Winnenden – und er beging seine Tat am fünften Jahrestag der Breivik-Anschläge in Norwegen.

Diese Identifikation und Nachahmung, so Bannenberg ist typisch für junge Täter, ebenso wie die Suche nach Verstärkern im Internet oder durch Computerspiele. Auffällig ist auch eine gewisse Unreife der jungen Amokläufer: Sie suchen Kontakt, Freundschaften und Bindungen, sind aber unfähig, diese herzustellen, gibt die Expertin zu bedenken.

Ältere Amoktäter haben in der Regel keine Vorbilder, auch spielt die Identifikation mit anderen Tätern kaum eine Rolle, ebenso wenig die mediale Inszenierung. Hier, so Bannenberg, soll durch die Tat ein Zeichen gesetzt werden, etwa am Arbeitsplatz oder bei einer Behörde, von der sich der Täter gegängelt fühlt.

Ein geringer Anlass bringt die über Jahre angestaute Wut zum Ausbruch. Oft geht der Tat ein berufliches oder privates Scheitern voraus.

Solche Amokläufer sind nicht selten querulatorisch und nachtragend, aber auch manifeste psychische Störungen lassen sich feststellen: Etwa ein Drittel hat eine Psychose. Diese Täter, so Bannenberg, wollen entweder eine wahnhafte Bedrohung ausschalten oder leiden an psychotisch bedingtem Hass.

Gemeinsam ist jungen und älteren Amokläufern eine leichte Kränkbarkeit, das männliche Geschlecht, eine hohe Waffenaffinität sowie eine hohe Suizidgefahr: Die meisten töten sich nach der Tat selbst.

Verdacht melden

Um Amoktaten vielleicht noch zu verhindern, gibt es an der Universität Gießen seit einiger Zeit das Beratungsnetzwerk Amokprävention. Es richtet sich an Schüler, Angehörige, Lehrer oder Arbeitskollegen, die den Verdacht haben, jemand plant einen Amoklauf, dies aber nur schwer einschätzen können. Experten helfen ihnen, das Ausmaß der Bedrohung abzuschätzen.

Es ist als niederschwelliges Angebot gedacht – viele wollen ja nicht gleich die Polizei rufen. Das Team um Bannenberg schaut, ob ein Gespräch mit dem Verdächtigen reicht oder vielleicht doch besser die Polizei alarmiert werden sollte.

Die Experten sind von Montag bis Donnerstag zwischen 9 und 12 Uhr sowie 13 und 15 Uhr telefonisch erreichbar unter 06 41 / 9 92 15 71.

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