Eine seltene Erbkrankheit und das Prinzip Hoffnung

Ein Jahr ist es her, daß ein Gendefekt als Ursache einer sehr seltenen Krankheit entdeckt worden ist, die Kinder früh zu Greisen macht. Bei einem Kongreß, an dem auch die Eltern betroffener Kinder teilgenommen haben, ist jetzt die Idee einer möglichen Therapie vorgestellt worden. Ob sie jemals funktioniert, ist nicht absehbar. Was das Leben für die Kinder und ihre Eltern bedeutet, hat zwischen den Fachvorträgen eine Mutter in einer ergreifenden Rede geschildert.

Von Sascha Karberg Veröffentlicht:

Ben kann nicht mehr geholfen werden. Marjet Stamsnijders Sohn ist bereits vor über zehn Jahren an der seltenen Erbkrankheit gestorben, die schon Kleinkinder so rasch altern läßt, daß sie in der Regel nicht älter als 14 Jahre werden - der Progerie.

Die Holländerin hielt auf dem ersten Treffen europäischer Progerie-Forscher und -Ärzte im vergangenen Jahr in Magdeburg zwischen nüchternen Fachvorträgen eine ergreifende Rede. Sie schilderte das Leben mit den Kindern, die trotz schmerzhafter Alterserscheinungen und entsetzt gaffender Passanten die Lebenslust und Kindlichkeit nicht verlieren. Und sie erklärte, was den Umgang mit der Progerie so schwer erträglich macht: "Der Tod ist nicht mehr länger eine weit entfernte Möglichkeit, sondern ständig Realität." Es war eine ungewöhnliche, bewegende Stimmung, die die Forscher zurück in ihren Laboralltag zwischen Zellkulturen und Reagenzgläser mitnahmen. Zumal die sonst distanziert beobachteten "Fallbeispiele" - ein Dutzend der 22 Progerie-Kinder aus ganz Europa - auf dem Flur des Tagungshotels ausgelassen herumtobten.

Vollkommen hilflos müssen sich die Forscher jedoch nicht mehr fühlen, denn seit rund einem Jahr kennen sie inzwischen die Ursache des galoppierenden Alterns: ein Defekt im Gen Lamin-A, das den Kern der Zellen stabilisiert. Endlich gibt es einen Ansatzpunkt, die Entstehung der Krankheit zu verstehen und vielleicht sogar eine Therapie zu entwickeln.

US-Forscher glauben an die Möglichkeit einer Therapie

Den ersten Schritt zu einer kausalen Behandlung hat nun Nanbert Zhong vom New York State Institute for Basic Research in Developmental Disabilities auf Staten Island getan. Dazu benutzten die Forscher seiner Arbeitsgruppe eine Kultur menschlicher Zellen mit defektem Lamin-A-Gen. Mikroskopische Untersuchungen solcher zeigen, daß das Proteinprodukt des defekten Gens, das so genannte Progerin, die Struktur der Zellkerne so stark stört, daß sie regelrecht ausfransen und löchrig werden, so daß das darin enthaltene Erbgut ins Zellplasma strömt.

Daraufhin gehen viele Zellen frühzeitig zugrunde, was sich im Organismus als Alterungsprozeß ausdrückt. "Wir haben diese pathologischen Effekte in der Zellkultur rückgängig machen können", sagt Zhong. Mit einer noch ebenso jungen wie vielversprechenden Technik, der sogenannten RNA-Interferenz, konnte er die Zwischenstufe in der Produktion des krank machenden Lamin-Proteins zerstören, die Lamin-RNA. Ähnlich wie sich bei der physikalischen Interferenz Wellen gegenseitig auslöschen, treten bei der RNA-Interferenz die Abschriften der Gene, die RNA-Moleküle, gegeneinander an: Mit kurzen, sogenannten short interfering RNAs (siRNAs) können die RNA-Abschriften eines ganz bestimmten Gens fast vollständig blockiert werden.

Auf der Jahrestagung der Human Genome Organization in Berlin Anfang April präsentierte Zhong Bilder, die zeigen, wie das Ausfransen der Zellkerne mit Hilfe der siRNA gegen das Lamin-Gen rückgängig gemacht werden konnte. Allerdings räumt Zhong ein, daß die Ergebnisse "vorläufig" seien. So ist es möglich, daß die Zellen nur dem Anschein nach normal aussehen, denn sogar im Körper von Progerie-Patienten sind nur etwa 50 Prozent aller Zellkerne defekt, der Rest erscheint intakt. Dennoch sieht Zhong in seinem Experiment den "Beweis, daß der siRNA-Ansatz als Therapiemöglichkeit der Progerie in Frage kommt".

Jonas Denecke, Kinderarzt und Progerie-Experte am Universitätskrankenhaus Münster, ist da zurückhaltender. Er hält die Theorie, das defekte Lamin-Gen störe lediglich die äußere Stabilität des Zellkerns, für zu "mechanistisch". Da das Lamin-Gen auch für die korrekte Aktivierung und Repression der Gene im Erbgut nötig ist, vermutet er weitere molekulare Schäden, die mikroskopisch nicht erkennbar sind. Ein äußerlich normal erscheinender Zellkern könnte also dennoch defekt sein.

Auch Francis Collins, der - zeitgleich mit einer französischen Arbeitsgruppe - die Mutation im Progerie-Gen entdeckte, ist hinsichtlich der therapeutischen Aussichten skeptisch: "RNA-Interferenz mag im Labor funktionieren, aber es ist eine große Herausforderung, diese Technik im Organismus umzusetzen", sagt der Leiter des National Human Genome Research Institute in Bethesda in Maryland. Er setzt eher drauf, in Progerie-Zellkulturen kleine Moleküle zu finden, die den Verfall der Zellkerne aufhalten könnten. "Zum Beispiel sind Stoffe, die das Enzym Farnesyl-Transferase hemmen, potentiell interessant", sagt Collins, da dem Lamin-Protein ein solches Farnesyl-Molekül angehängt werde. Allerdings könne so nicht zwischen defektem und intaktem Protein unterschieden werden. Per RNA-Interferenz kann jedoch die defekte Lamin-Genkopie, die meist vom Vater stammt - spezifisch stillgelegt werden - selbst wenn sie sich nur in einem Baustein von der normalen Kopie unterschiedet.

Das sei zumindest im Labor gezeigt worden, sagt Stefan Limmer von der Ribopharma AG, ein RNA-Interferenz-Experte der ersten Stunde. Er hält den Versuch deshalb für "lohnenswert". Allerdings gibt Zhong zu, daß seine siRNA noch nicht gut genug sei, weil sie auch die Aktivität der normalen Lamin-Genkopie beeinträchtige. Die entscheidende Hürde sieht Limmer im Transfer der siRNA in die Zellen. Noch wisse niemand, wieviel siRNA gespritzt werden muß, um über einen gewissen Zeitraum in einem Gewebe die gewünschte Reaktion hervorzurufen - von den möglichen Nebenwirkungen ganz zu schweigen. "Aber wenn man eine neuartige Therapie entwickeln will, muß man anfangen, bevor alle Probleme gelöst sind", sagt Stefan Limmer. Seine Firma ist kürzlich in der amerikanischen Alnylam Holding aufgegangen, die RNA-Interferenz-Therapien auch gegen Krebs und gegen die Augenerkrankung Makula-Degeneration entwickeln will.

Zhong will das Problem des siRNA-Transfers lösen, indem er die Zellen nach dem Prinzip der Gentherapie mit sogenannten Vektoren ausstattet. Sie tragen spezielle Gene, die für ständigen siRNA-Nachschub sorgen. "Damit ist es im Prinzip möglich, in vielen Zellen über lange Zeit die fehlerhafte RNA zu unterdrücken", sagt Zhong. "So könnte der Alterungsprozeß wenn schon nicht gestoppt, dann doch zumindest verlangsamt werden." Aber was in Zellkulturen ein Vorteil ist, kann dem Organismus gleichwohl zum Nachteil gereichen: Um über Monate und Jahre siRNA produzieren zu können, muß die Vektor-DNA ins Erbgut eingebaut werden, wodurch intakte Gene zerstört oder verändert werden können. Bei derartigen Gentherapieversuchen sind bereits Leukämien ausgelöst worden. Limmers Firma verzichtet aus diesem Grund auf Vektoren.

Auch an eine Therapie gegen Alterssymptome wird gedacht

Daß aus einer Therapie gegen die Progerie auch ein Mittel gegen normale Alterserscheinungen erwachsen könnte, ist ein weiteres Argument, um Forschungsgelder zu bekommen. "Die Wahrscheinlichkeit, daß molekulare oder biochemische Phänomene des Progerie-Alterns und des normalen Alterns Überschneidungen zeigen, ist groß", sagt Denecke, obwohl Untersuchungen gezeigt haben, daß normal gealterte Zellen keine ausgefransten Zellkerne haben. Zur Pille gegen das Altern werde die Progerie-Forschung jedoch nicht verhelfen - aus gutem Grund: "Schließlich ist Altern keine Krankheit."

Viel Forschungsarbeit ist also noch nötig, um die erste Therapie für Patienten mit Progerie auf den Weg zu bringen.

Zu hohe Erwartungen an den medizinischen Fortschritt haben die Eltern der Progerie-Kinder ohnehin nicht: "Wir haben uns von Anfang an keine Illusionen gemacht", sagt der Vater des jetzt zweijährigen Toontje aus Belgien, bei dem die Progerie schon mit acht Monaten diagnostiziert wurde. Seit er sich über die Krankheit und ihre Ursache informiert hat, weiß er, daß eine einfache und schnelle Lösung nicht in Sicht ist.

Ende April trafen sich die Progerie-Kinder und ihre Eltern erneut in Köln, wie künftig jedes Jahr. Noch werden sich Eltern und Kinder nicht entscheiden müssen, welcher Therapie-Idee sie ihr Vertrauen schenken - und wann eines der Kinder einen ersten Versuch wagen kann.

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STICHWORT

Progerie, Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom

Progerie, die vorzeitige Vergreisung bei Kindern, wird auch Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom genannt.

Schon in den ersten Lebensjahren entwickelt sich bei den betroffenen Kindern das Vollbild der Krankheit mit Wachstumsverzögerung, Altersveränderungen der Haut sowie des Skeletts und der Gefäße. Die Patienten erreichen kaum das Erwachsenenalter. Die mittlere Lebenserwartung beträgt 13,4 Jahre. Hauptgrund dafür ist das hohe Risiko für Infarkte.

Die Kinder werden kaum über 1,15 Meter groß, haben ein kleines Gesicht mit knochig gebogener Nase. Das Gesicht wirkt dadurch vogelartig. Den Kindern fehlen die Haare, die Haut ist fleckig mit durchscheinenden Venen. Es besteht eine erhöhte Neigung zu Knochenbrüchen und Fehlstellungen von Gelenken. Wegen der Atherosklerose ist das Infarktrisiko hoch.

Die Ursache für das Syndrom ist erst im vergangenen Jahr entdeckt worden: Es sind autosomal-dominante Mutationen im Gen für das Zellkernmembran-Protein Lamin A. Dieses Protein stabilisiert im Zellkern nicht nur die Struktur, sondern auch die Regulation der DNA-Replikation, die DNA-Expression und den Proteinverkehr. Eine ursächliche Therapie ist nicht bekannt. Das Syndrom ist sehr selten. Angaben zur Häufigkeit liegen zwischen einem und 40 Betroffenen auf 10 Millionen Geburten. Derzeit sind 22 erkrankte Kinder in Europa und etwa 40 weltweit bekannt.

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