HINTERGRUND

Sollten CMV-infizierte Frauen stillen? Eine neue Studie könnte zum Umdenken bei der Empfehlung zwingen

Von Angela Speth Veröffentlicht:

Durchschnittlich ein Drittel der Frühgeborenen wird über die Muttermilch mit dem Zytomegalievirus infiziert. Trotzdem empfehlen viele Neonatologen den Müttern zu stillen, weil es bisher keine Anhaltspunkte dafür gab, daß eine Infektion den Kindern schadet. Eine neue Studie könnte jedoch die bisherige Anschauung ins Wanken bringen.

Etwa 7000 Frühchen werden jährlich in Deutschland geboren, mehr als 2000 stecken sich beim Trinken von Muttermilch mit dem Humanen Cytomegalievirus (HCMV) an. Zumindest körperliche Schäden tragen sie dadurch offenbar nicht davon, wie Dr. Rangmar Goelz von der Universitätskinderklinik Tübingen mit einer Studie bestätigt hat.

In dieser Studie hatte er die klinischen Daten von 40 infizierten Frühgeborenen mit denen von Frühgeborenen einer gleich großen, nicht infizierten Kontrollgruppe verglichen. Bei den erkrankten Kindern kamen zwar Thrombopenie und Neutropenie signifikant häufiger vor, wie Goelz auf einem Symposium in Tübingen berichtet hat. Aber diese Störungen verschwanden nach kurzer Zeit von selbst.

Aufklärung der Mütter über Nutzen und Risiko des Stillens

Kein nennenswerter Unterschied ergab sich bei Gewichtszunahme, Kopfumfang, Liegedauer in der Klinik, Apnoe und Dauer der künstlichen Beatmung. "Die klinischen und hämatologischen Symptome HCMV-infizierter Kinder sind leicht und vorübergehend, so daß wir den Rat, Muttermilch zu füttern, ihrer Vorteile wegen beibehalten", so Goelz. Auf jeden Fall klärt er die Eltern in einem Gespräch über Nutzen und Risiken des Stillens auf, wenn bei der Mutter mit den routinemäßig vorgenommenen Tests HCMV-Antikörper gefunden wurden.

Allerdings werden vereinzelt auch immer wieder Stimmen laut, die vor schweren Krankheitsverläufen warnen. Manche Experten raten von Muttermilch ab mit dem Argument, daß Frühgeborene sich formal noch in der Fetalzeit befinden, wo HCMV-Infektionen gelegentlich schwerwiegende Folgen haben. Eine bald beendete Studie der Tübinger Entwicklungsneurologin Dr. Brigitte Vollmer könnte den Kritikern recht geben.

Wie Vollmer auf dem Symposium vorgetragen hat, untersuchte sie 22 mit HCMV infizierte und 22 nicht-infizierte Frühchen nach der Geburt: im Alter von 2,5 bis 4 Jahren sowie von sechs bis acht Jahren. Keine Unterschiede ergaben sich bei der Inzidenz von Hörstörungen, den neurologischen Befunden und den sprachlichen Fähigkeiten. Bei den kognitiven Leistungen dagegen war ein Trend zu leichten Beeinträchtigungen auszumachen: Infizierte Kinder schnitten in allen Untertests etwas schwächer ab, am deutlichsten beim ganzheitlichen Lernen. "Wohlgemerkt: Die Werte lagen alle noch im Normbereich", betonte Vollmer.

Klarheit erst nach Abschluß der Studie in wenigen Wochen

Endgültig Klarheit wird erst nach Abschluß der Studie in wenigen Wochen herrschen. "Wenn sich bei den Intelligenztests auch nur eine Differenz von wenigen Punkten herausstellt, so wäre das alarmierend und ein Signal zum Umdenken," sagte Goelz. Er appellierte an die Kinderärzte, den Eltern klar zu machen, wie wichtig es sei, zu den Untersuchungsterminen in die Klinik zu kommen.

Derzeit laufen an der Universität Tübingen Versuche zur Prävention von HCMV-Infektionen bei Frühgeborenen. Ziel ist es, den Erreger in der Muttermilch unschädlich zu machen. Bisher ist keine der verfügbaren Methoden zufriedenstellend: Durch Einfrieren wird das Virus nicht zuverlässig inaktiviert, Pasteurisieren - also 30 Minuten lang min auf 62 °C erhitzen - ist zwar sicher, aber die Inhaltsstoffe der Milch werden teilweise zerstört.

Kurzzeitiges Erhitzen der Muttermilch wird geprüft

Daher haben Privatdozent Klaus Hamprecht und seine Kollegen vom Institut für Medizinische Virologie jetzt eine Kurzzeit-Erhitzung entwickelt: In dem noch nicht kommerziell verfügbaren Prototyp des erforderlichen Geräts rotiert die Muttermilch in einem Kolben, so daß ein dünner Flüssigkeitsfilm entsteht, der durch Einstrom von Heißluft fünf Sekunden lang auf 72 °C erhitzt wird. Das Verfahren ermöglicht einen raschen Temperaturwechsel, wodurch die Viren zwar inaktiviert werden, die Inhaltsstoffe aber weitgehend stabil bleiben.



Zehn Prozent mit schweren Schäden

HCMV-Infektionen sind pränatal und postnatal möglich. Pränatal ist HCMV der Erreger der häufigsten intrauterinen Infektion. Ein Drittel der Frauen, die sich während der Schwangerschaft infizieren, überträgt das Virus auf das Kind. Bei jedem zehnten Kind kommt es zu teilweise schweren Schäden: Wachstumsretardierung, Hydrozephalus, intrakranielle Verkalkungen, Innenohrschwerhörigkeit. Die Mortalität liegt bei 30 Prozent. Weiteren zehn Prozent der Kinder ist bei der Geburt zunächst nichts anzumerken, aber es kommt nach Jahren zu Hirnschäden, Hör- und Sprachstörungen. Selbst Kinder ohne Symptome scheiden das Virus manchmal noch jahrelang aus.

Zur postnatalen Infektion kommt es vor allem durch Muttermilch, denn bei jeder seropositiven Frau wird das Virus durch die Laktation reaktiviert. Reife Neugeborenen haben keine oder (sehr selten) lokale Symptome. Bei Frühgeborenen gibt es eine Debatte über mögliche Schäden. (ars)



Ganciclovir zur Behandlung

Als Therapie für Neugeborene mit schwerer angeborener Zytomegalie eignen sich Infusionen mit Ganciclovir. Das hat sich bei der ersten, kürzlich beendeten Studie zur Behandlung dieser Patienten herausgestellt: Durch das Virostatikum wurde die Hörverschlechterung hochsignifikant aufgehalten, sonstige Meßgrößen änderten sich nicht. Allerdings traten bei zwei Drittel der Kinder unerwünschte Wirkungen auf, vor allem Neutropenie. Als Alternative mit der Möglichkeit der oralen Applikation könnte Valganciclovir in Frage kommen, allerdings ist der Wirkstoff bei Neugeborenen noch nicht geprüft. (ars)

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