KOMMENTAR
Tschernobyl läßt sich nicht in Zahlen fassen
Pünktlich zum 20sten Jahrestag der Reaktorhavarie von Tschernobyl hat eine makabere Diskussion um die Zahl der Strahlentoten eingesetzt - eine Diskussion, die nur eine Schlußfolgerung erlaubt: Das Ausmaß der Katastrophe wird sich nie in Zahlen fassen lassen.
Zu unterschiedlich sind die Beweggründe derjenigen, die jetzt Hochrechnungen über die Zahl der Opfer bekanntgeben, zu wenig hat man in der Vergangenheit getan, um die Auswirkungen auf die am stärksten betroffenenen Menschen zu prüfen.
So wundert es kaum, wenn die Internationale Atomenergiebehörde Zahlen vorlegt, nach denen "nur" mit 4000 Toten zu rechnen ist. Die Botschaft ist klar: Das war doch nur halb so schlimm! Daß man sich bei dieser Rechnung zum Teil auf zweifelhafte offizielle russische Zahlen beruft, bleibt unerwähnt.
Dabei ist bekannt, daß die radioaktive Belastung der etwa 800 000 Menschen, die das Feuer im Reaktor löschen mußten, in offiziellen Dokumenten schamlos manipuliert wurde, daß viele gar nicht mit Dosimeter ausgestattet waren, und daß Strahlenschäden nicht anerkannt wurden, die nicht unmittelbar nach dem Einsatz auftraten - Langzeitfolgen wie Krebs wurden so per Dekret des Kremels praktisch ausgeschlossen.
Ob die Zahlen von Organisationen wie Greenpeace realistischer sind, läßt sich nur schwer beurteilen. Die oft genannten 100 000 Krebstoten beruhen auf epidemiologischen Studien. Da Vergleichszahlen aus der Zeit vor Tschernobyl oft fehlen, ist die Aussagekraft der Studien begrenzt.
Um Tschernobyl und seine Folgen zu begreifen, bleibt meist nur der Blick auf die vielen Einzelschicksale. Und die sollte sich genau anschauen, wer von einer Renaissance der Atomenergie träumt.
Lesen Sie dazu auch: "Tschernobyl ist heute noch eine Katastrophe, eine stille Katastrophe" Der Reaktor ging erst im Dezember 2000 vom Netz