HINTERGRUND

Neurologen schätzen, Morbus Alzheimer zehn Jahre vor dem klinischen Beginn diagnostizieren zu können

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Derzeit haben etwa eine Million Menschen in Deutschland eine Alzheimer-Demenz. Diese Zahl wurde bei einer Tagung der Hirnliga in Berlin genannt, einer gemeinnützigen Vereinigung deutscher und österreichischer Alzheimer-Forscher. Hochrechnungen aus den USA zufolge wird sich durch die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung die Zahl der Alzheimer-Patienten bis zum Jahr 2050 nicht, wie bisher angenommen, verdoppeln, sondern möglicherweise sogar verdreifachen.

Vor diesem Hintergrund haben die in Berlin versammelten Alzheimer-Forscher einen Schwenk von der Krisenintervention hin zur Frühdiagnostik gefordert: "Wenn wir die schon zur Verfügung stehenden und für die Zukunft zu erwartenden therapeutischen Strategien wirksam einsetzen wollen, dann brauchen wir beim Morbus Alzheimer die Frühdiagnostik", sagt zum Beispiel Privatdozent Dr. Harald Hampel von der Ludwig-Maximilian-Universität in München, der von der Hirnliga für seine Arbeiten mit dem Forschungspreis 2003 ausgezeichnet wurde.

Präklinische Phase kann bis zu 40 Jahre lang dauern

Auf 15 bis 40 Jahre schätzt Hampel die Dauer der präklinischen Phase bei der Alzheimer-Demenz, jenes Zeitraums, in dem die Erkrankung schon die Nervenzellen verändert, ohne daß weder der Patient noch ein Arzt davon etwas bemerken.

Die für eine Frühdiagnostik in Frage kommenden Methoden werden gerade weltweit in klinischen Studien evaluiert. Hampel hat sich ausführlich mit dem phosphorylierten Tau-Protein beschäftigt. Dieser im Liquor nachweisbare Biomarker ermöglicht Aussagen darüber, ob zum Beispiel leichte Merkfähigkeitsstörungen Symptom einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung sind. Bei Gesunden stabilisiert das Tau-Protein die Nervenzellfortsätze. Bei Alzheimer-Patienten werde es phosphoryliert, so Hampel, und das zelluläre Stützsystem breche zusammen, was die Funktion der Zelle störe.

Hampel konnte in einer klinischen Studie mit 77 Menschen, die leichte Merkfähigkeitsstörungen hatten, beobachten, daß ein höherer Gehalt an phosphoryliertem Tau-Protein im Liquor mit der Wahrscheinlichkeit einer Weiterentwicklung der Gedächtsnisstörungen zu einer manifesten Alzheimer-Demenz korrelierte. "In einer weiteren Studie mit 192 Teilnehmern konnten wir außerdem zeigen, daß das phosphorylierte Tau auch bei der Abgrenzung einer manifesten Alzheimer-Demenz von anderen Demenz-Formen behilflich sein kann", so Hampel.

Die Alternative zur invasiven Liquordiagnostik ist die moderne Bildgebung. Es gibt inzwischen mehrere konkurrierende Verfahren, die sich im Endstadium der klinischen Evaluation befinden. "Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie können wir heute zum Beispiel die für Alzheimer-Kranke typische Verringerung im Volumen des Hippocampus bestimmen", erläutert Hampel. Erst wenn der Hippocampus bereits um die Hälfte geschrumpft ist, werden Alzheimer-Patienten klinisch auffällig.

Mit der MR-Volumetrie erkennt man diese Schrumpfung viel eher, "ein ganz, ganz frühes Zeichen", wie Hampel betont. Auch eine Abnahme der Dicke der Hirnrinde - bei Alzheimer-Kranken vor allem im Temporallappen und im Bereich des sensomotorischen Cortex zu beobachten - läßt sich mit MRT früh registrieren.

Fast künstlerisch anmutende Bilder erhält man mit der noch jungen Diffusionsgewichteten Tensor-Bildgebung (DTI), ebenfalls ein MR-Verfahren. Es kann die Nervenfaserbahnen im Gehirn darstellen und beruht darauf, daß sich in einem so hochorganisierten Gewebe wie einem Nervenstrang die für die MR-Bildgebung wichtigen Wassermoleküle gerichtet bewegen. Die Nervenfaserschäden bei Morbus Alzheimer führen nun dazu, daß diese gerichtete Bewegung verloren geht: Die entsprechenden Bahnen zeichnen sich dann auf dem DTI-Bild nicht mehr ab. Mit DTI können bereits sehr frühe Faserunterbrechungen sichtbar gemacht werden, die einem Untergang der Nervenzellen weit voraus gehen.

Aufgrund seiner Erfahrungen schätzt Hampel, daß sich Morbus Alzheimer mit Hilfe von Biomarkern und moderner Bildgebung mittelfristig bis zu zehn Jahre vor dem klinischen Beginn der Erkrankung diagnostizieren lassen wird.

Neurologen, Genetiker und Geriater arbeiten zusammen

Natürlich will Hampel nicht bei jedem über 50 Jahren eine Liquorpunktion oder eine MRT machen, um dessen Alzheimer-Risiko zu ermitteln. Vielmehr komme es darauf an, in einer Zusammenarbeit von Neurologen, Genetikern und Geriatern Risikogruppen zu definieren, um jene Menschen zu erkennen, bei denen die Gefahr, einen Morbus Alzheimer zu entwickeln, besonders groß sei, so der Neurologe. Bei diesen könne man dann eine frühe Therapie ins Auge fassen, etwa mit Hemmstoffen der Acetylcholinesterase, mit NMDA-Antagonisten oder anderen, künftigen Antidementiva.



FAZIT

Für die Frühdiagnostik bei Patienten mit Morbus Alzheimer stehen mehrere Verfahren zur Verfügung, die gerade weltweit evaluiert werden. Dazu gehören der Nachweis von Biomarkern und von morphologischen Veränderungen mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren, etwa der Magnetresonanztomographie. Künftig wird man damit die Krankheit Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte vor Beginn der klinischen Symptomatik diagnostizieren können. Das eröffnet neue Möglichkeiten der präventiven Behandlung.

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