Pillen bei ersten Gedächtnisproblemen?

ROM. Lohnt es sich, bei ersten kognitiven Einschränkungen mit Antidementiva zu behandeln? Ergebnisse klinischer Studien liefern bislang keine befriedigende Antwort. So können Cholinesterase-Hemmer nach Daten einer Meta-Analyse den Übergang zu einer Alzheimer-Erkrankung nicht signifikant verzögern. Allerdings: Nicht jeder Patient mit leichten kognitiven Einschränkungen bekommt auch eine Demenz. Dies kann das Ergebnis von Antidementiva-Studien verwässern.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Was im Gehirn bei MCI geschieht, ist noch weitgehend unklar.

Was im Gehirn bei MCI geschieht, ist noch weitgehend unklar.

© Foto: ktsdesign www.fotoila.de

Bei Patienten mit einer klinisch manifesten Alzheimer-Erkrankung ist der Nutzen von Cholinesterase-Hemmern gut belegt: Die Progression der Erkrankung lässt sich damit deutlich verzögern. Dies nährt die Hoffnung, dass die Medikamente bei Patienten in einem Alzheimer-Vorstadium den Beginn der Erkrankung verzögern können.

So wird eine präventive Therapie mit Antidementiva auch bei Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen (mild cognitive impairment, MCI) diskutiert. Diese Patienten haben ein hohes Risiko, innerhalb weniger Jahre Morbus Alzheimer zu entwickeln. Bislang sind Cholinesterase-Hemmer und Memantine jedoch nur bei manifesten Alzheimer-Erkrankungen zugelassen, Daten zum Nutzen von Antidementiva bei MCI sind bislang rar.

Zur Therapie bei MCI gibt es wenige kontrollierte Studien

In einer Meta-Analyse haben nun Forscher aus Rom und London die wenigen kontrollierten Studien zu Cholinesterase-Hemmern bei MCI-Patienten ausgewertet. Insgesamt fanden sie sechs Placebo-kontrollierte Untersuchungen mit Donepezil, Rivastigmin und Galantamin. An diesen Studien hatten insgesamt über 4100 Patienten mit MCI teilgenommen. Sie wurden alle mit den maximal zugelassenen Dosierungen der Arzneien oder mit Placebo behandelt. Die Studiendauer variierte von vier Monaten bis zu drei Jahren.

In vier der Studien - alle mit zwei- bis dreijähriger Dauer - war der primäre Endpunkt die Konversion zu M. Alzheimer. Insgesamt erkrankten in diesen vier Studien mit Placebo mehr Patienten an Alzheimer als mit den Cholinesterase-Hemmern (18 bis 28 Prozent versus 13 bis 25 Prozent). Der Unterschied war jedoch nicht signifikant, berichten Dr. Roberto Raschetti aus Rom und seine Mitarbeiter in der Online-Zeitschrift PLoS Medicine (4, 2007, e338).

In kognitiven und neuropsychiatrischen Tests sowie bei der globalen und klinischen Beurteilung schnitten die Teilnehmer mit der Medikation ebenfalls besser ab als mit Placebo, doch auch hier war der Unterschied nicht signifikant. Immerhin: Einen Hinweis auf einen Nutzen der Medikation bei MCI ergab sich in einer der Studien mit MRT-Untersuchungen. So war die Hirnatrophie nach zwei Jahren Galantamin-Therapie signifikant geringer als mit Placebo.

Unterschiede gab es auch bei der Verträglichkeit: Mit Cholinesterase-Hemmern brachen zwischen 21 und 24 Prozent der Teilnehmer die Studien wegen unerwünschter Wirkungen ab, mit Placebo waren es zwischen 7 und 13 Prozent. Die Autoren schließen daraus, dass sich nach den bisherigen Daten mit den Medikamenten bei MCI-Patienten weder eine Alzheimer-Erkrankung signifikant verzögern noch die Kognition verbessern lässt. Allerdings geben sie zu bedenken, dass MCI bisher klinisch nicht klar definiert ist. Die Teilnehmer in den Studien waren sehr heterogen, die Einschlusskriterien sehr unterschiedlich. Zudem sei eine MCI kein stabiler Zustand: Bei einem Teil der Patienten normalisiert sich die Kognition nach einiger Zeit wieder, so die Autoren.

Viele Patienten mit MCI bekommen nie eine Demenz

"Im Prinzip ist in Studien mit MCI-Patienten ein Effekt der Medikation erkennbar", so Professor Lutz Frölich vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Da jedoch unter den MCI-Patienten viele sind, die keine echte Demenz entwickeln, werde der Effekt verwässert, sagte Frölich zur "Ärzte Zeitung".

Möglicherweise haben Cholinesterase-Hemmer bei einer beginnenden Demenz auch keinen großen Nutzen, weil die Patienten zu diesem Zeitpunkt noch kein cholinerges Defizit haben. Auch dafür gebe es Hinweise, so Frölich. So sei in Post-mortem-Analysen bei MCI-Patienten die Konzentration für Cholin-Acetyltransferase nicht erniedrigt, sondern erhöht gewesen.

Das Enzym gilt als Marker für die cholinerge Aktivität. "Daraus lässt sich eine Hypothese ableiten: Kompensationsmechanismen versuchen möglicherweise, die cholinerge Aktivität im Gehirn zu verstärken", so Frölich. Dann wäre das Gehirn bei einer beginnenden Demenz schon maximal cholinerg stimuliert, und eine Therapie mit Cholinesterase-Hemmern wäre zu diesem Zeitpunkt wenig hilfreich. Um solche Fragen zu klären, sind jedoch noch viele Studien nötig.

MCI bei jedem dritten über 65-Jährigen

Für Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen wird oft der Begriff MCI (mild cognitive impairment) verwendet. Dabei handelt es sich jedoch eher um ein klinisches Konzept als um eine exakte Diagnose. Nach den oft verwendeten Petersen- oder Winblad-Kriterien geht man von einer MCI aus, wenn die kognitiven Funktionen zwar noch weitgehend erhalten sind, die Patienten aber über Gedächtnisprobleme klagen und in Gedächtnistests schlechter abschneiden, als dies für ihr Alter und ihr Bildungsniveau zu erwarten wäre.

Im Gegensatz zu Demenzkranken haben Patienten mit MCI im Alltagsleben aber keine Einschränkungen. Je nach Definition hat etwa ein Drittel der über 65-jährigen Menschen eine MCI, etwa 15 Prozent von ihnen entwickeln innerhalb eines Jahres eine Demenz. (mut)

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