Leitartikel zum Welt-Diabetes-Tag

Und gnadenlos tickt die Zähluhr

Im Sekundentakt erkranken weltweit Menschen an Typ-2-Diabetes. Der Fokus der Forschung liegt auf der Therapie. "Mit Diabetes gut leben" ist denn auch das Motto des Welt-Diabetes-Tags am 14. November. Besser wäre es, die Prävention zu stärken.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Immer mehr Menschen erhalten die Diagnose Diabetes.

Immer mehr Menschen erhalten die Diagnose Diabetes.

© DOC RABE Media /fotolia.com

Bald ist die 385-Millionen-Grenze überschritten. Immer weiter läuft die Zähluhr auf Welt-Diabetes-Tag.de.

Die letzte, leuchtend rot markierte Ziffer der neunstelligen Zahl, wird etwa alle zwei Sekunden um eins größer - wieder ein Diabetes-Patient mehr auf diesem Planeten. Und wieder einer. Und wieder ...

Wäre "Diabetes mellitus" eine Nation, so würde sie nach China und Indien das drittbevölkerungsreichste Land der Erde sein. - Klick, wieder einer. Man ist geneigt, den Stopp-Knopf zu suchen. Den gibt's aber nicht! Klick, klick ... wieder zehn mehr.

Es mag ja ermutigend gemeint gewesen sein, das Motto des diesjährigen Welt-Diabetes-Tages am 14. November: "Mit Diabetes gut leben". Ein wenig hört es sich jedoch auch nach Resignation an: Lasst uns damit leben, verhindern können wir das sowieso nicht.

Hanks outet sich als Diabetiker

US-Schauspieler Tom Hanks bekannte kürzlich in der David-Letterman-Show, dass er Typ-2-Diabetes habe: "Hey Dave, an irgendwas muss der Mensch ja sterben." "Gratulation, Tom", so die Reaktion Lettermans auf Hanks launige Bemerkung, sein Arzt habe ihm, Hanks, in Bezug auf die schon früher grenzwertigen Blutzuckerwerte eröffnet, er sei "aufgestiegen" - haha.

Aber der Arzt hatte auch einen Tipp: Wenn er es schaffe, sein Gewicht auf ein Niveau wie zu High-School-Zeiten zu reduzieren, könnte er die Krankheit besiegen. Hanks: "Ich sagte zu ihm: Da habe ich lieber Typ-2-Diabetes!" - Großes Gelächter.

Und wieder hat es "klick" gemacht. Nicht bei Tom Hanks, leider. Der sympathische Schauspieler musste nach der Show einige Kritik einstecken. Sicher, Humor ist, wenn man trotzdem lacht; man kann gut leben mit Diabetes, wenn man vieles richtig macht.

Noch besser wäre es, man wüsste die Dinge, die später in der Diabetiker-Schulung vermittelt werden, bereits vorher.

Größtenteils nur gute alte Reparaturmedizin

Ist es nicht faszinierend, welche intellektuelle Kraft Menschen entfalten, welche personellen und finanziellen Ressourcen mobilisiert werden können, wenn es darum geht, neue und immer bessere Medikamente gegen Diabetes mellitus zu entwickeln?

Richtig und innerhalb eines sinnvollen Gesamtkonzepts angewendet, sind sie es, die eine hohe Lebensqualität trotz chronischer Krankheit ermöglichen. Dennoch ist das größtenteils nur gute alte Reparaturmedizin.

Wo sind die

intellektuellen, personellen und finanziellen Ressourcen, wenn es darum geht, Typ-2-Diabetes zu verhindern? Millionenfach. Wenn doch bekannt ist, dass das möglich ist? Stattdessen möchten offenbar politische Entscheider in Deutschland erreichen, dass wieder die Harnzuckermessung aus der Versenkung geholt wird. Toll!

Und wie viele Jahre wurde um ein suffizientes Screening auf Gestationsdiabetes gestritten ...

Es ist Zeit, grundsätzlich etwas zu ändern, Zeit für die Primärprävention. Warum gibt es dazu eine allenfalls halbherzige öffentliche Diskussion? Ein zu großer Stein, der bergan gerollt werden muss?

Präventionsstrategien ohne Erfolg

"Um Präventionsstrategien bei Diabetes kämpfen Ärzte und Patienten seit Jahrzehnten - ohne großen Erfolg", schrieb im April Professor Hellmut Mehnert in der "Ärzte Zeitung".

Mehnert ist Jahrgang 1928 und muss es wissen. Was nicht heißt, dass er aufgibt: "Jetzt gibt es neue Aktivitäten", schob er gleich hinterher.

Bemerkenswert ist doch, dass sich auch andere Fachgruppen zunehmend stärker um Primärprävention kümmern: Kardiologen zum Beispiel und all jene, die sich um die steigenden Inzidenzen des metabolischen Syndroms und der Adipositas Gedanken machen.

So müssen selbst stark Technik-affine Gefäßinterventionalisten zugeben, dass sie mit modernsten Kathetern und Stents eines nicht erreichen können: Ein einmal geschädigtes Gefäßsystem als Ganzes wieder auf Vordermann zu bringen und Prognosen, etwa von Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit, maßgeblich zu verbessern.

Dagegen lässt sich mit gesunder Ernährung und angepassten Sportangeboten Leben verlängern und Lebensqualität nachweislich erhöhen.

Die Adipositas wird man ebenfalls nicht reihenweise wegoperieren können, vielmehr: dürfen, Stichwort "metabolische Chirurgie".

Viel Geld wird ausgegeben für feinste Technik wie für Hybrid-OPs in Herzzentren, für Operationen am Magen-Darm-Trakt, deren Langzeitfolgen noch gar nicht absehbar sind.

Schon Eindämmung wäre ein großer Fortschritt

Nein, es hilft alles nichts: Der steinige Weg der Primärprävention muss endlich mit nachhaltiger Konsequenz beschritten werden. Das ist in individuellem wie in gesellschaftlichem Interesse.

Es ist nicht der Weg des geringsten Widerstands, weshalb politische Unterstützung und strukturierte Programme vonnöten sind, die tief in den Alltag der Gesellschaft hineinwirken, wollen wir uns nicht weiter zunehmend mit den akuten und chronischen Folgen unseres Erste-Welt-Lebensstils herumschlagen.

Die Instrumente sind längst bekannt: gesunde Ernährung und körperliche Bewegung. So einfach, so schwer und so notwendig.

Die Zähluhr auf Welt-Diabetes-Tag.de tickt derweil weiter. Schon ein verlangsamter Takt wäre ein Fortschritt.

Lesen Sie dazu auch: Diabetes-Atlas: Zuckerkranker Osten

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