Welt-Diabetes-Tag

Die Diabetes-Welle rollt ungebremst

Zum Welt-Diabetes-Tag zieht die Diabetesgesellschaft eine ernüchternde Bilanz: Die Primärprävention hat aus ihrer Sicht versagt.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Übergewicht, Fehlernährung und Stress sind die Triebkräfte der Diabetes-Epidemie.

Übergewicht, Fehlernährung und Stress sind die Triebkräfte der Diabetes-Epidemie.

© Marco Mayer / fotolia.com

Vor 25 Jahren trafen sich Vertreter von Gesundheitsministerien und Patientenorganisationen aus Europa im italienischen St. Vincent und berieten mit Experten über die zunehmende Diabetesepidemie. Auf Initiative der WHO und der Internationalen Diabetesföderation (IDF) wurden die Staaten aufgefordert, Pläne zur Verhütung, Erkennung und Behandlung des Diabetes zu erarbeiten.

Besonders sollten die gravierenden Folgeerkrankungen des Diabetes wie Blindheit, Nierenschäden und Amputationen reduziert und die zunehmende Diabetesepidemie gestoppt werden. Die Bilanz der Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) nach diesen Absprachen vor zweieinhalb Jahrzehnten ist ernüchternd: Es gibt zwar Erfolge bei der Bekämpfung der Folgeerkrankungen von Diabetes. Dem steht aber "ein klares Versagen in der Primärprävention gegenüber", so die Fachgesellschaft in einer Mitteilung.

Erfolge bei Retinopathie

Erfolge gibt es zum Beispiel bei der diabetischen Retinopathie. "Heute erkranken nur noch zehn bis fünfzehn Prozent der Patienten mit Typ-2-Diabetes an der Netzhaut-Erkrankung. Vor einigen Jahrzehnten waren es beim Typ-2-Diabetes noch 40 Prozent", wird DDG-Präsident Privatdozent Erhard Siegel in der Mitteilung zitiert.

Dies ist einer besseren augenärztlichen Versorgung und neuen Therapiemöglichkeiten etwa mit dem Laser zu verdanken.

Auch beim Diabetischen Fußsyndrom zeichnet sich ein positiver Trend ab. Noch zu Beginn der 1990er Jahre waren Fuß-Amputationen bei Diabetespatienten 20-mal häufiger im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes.

Inzwischen sei das relative Risiko auf bis zu 8,8 bei Männern und 5,7 bei Frauen gesunken, so die DDG. Trotzdem kommt es in Deutschland auch heute immer noch zu jährlich 40.000 Amputationen bei Diabetikern.

270.000 Neuerkrankungen pro Jahr

"Den Erfolgen bei den Diabetes-Folgeerkrankungen steht ein Versagen bei der Primärprävention gegenüber", betont Dr. Dietrich Garlichs, Geschäftsführer der DDG. Die wachsende Zahl der Diabeteserkrankungen konnte nicht gestoppt werden. Allein in den Jahren zwischen 1998 und 2012 stieg die Zahl der Diabetespatienten in Deutschland um 38 Prozent auf über sechs Millionen, jedes Jahr kommen zudem geschätzte 270.000 Neuerkrankungen hinzu.

Der größte Teil dieses Zuwachses ist nicht durch die Alterung der Bevölkerung verursacht. Übergewicht und Adipositas sind die treibenden Faktoren der Welle von Typ-2-Diabetes in Industrieländern. Hauptursachen sind Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung.

Die klassische Antwort der Gesundheitspolitik in Deutschland ist der Appell an die Vernunft des Einzelnen. Solche Aufrufe zu gesunder Lebensweise erreichen aber gerade Bevölkerungskreise aus bildungsfernen Schichten nicht, bei denen es die höchsten Erkrankungsraten gibt.

Einfache Ansätze, wie die Lebensmittelampel zur gut sichtbaren Kennzeichnung ungesunder Produkte, sind bei uns wegen Widerständen aus der Lebensmittelindustrie verworfen worden. Stattdessen gibt es jetzt auf den Verpackungen einen unübersichtlichen Wust oft unverständlicher Informationen zu Inhaltsstoffen und Portionsgrößen.

Einfache Lösungen gegen Adipositas im Spannungsfeld zwischen Lebensstil, seelischen Faktoren und genetischem Hang zu Körperfülle gibt es nicht. Die Welle chronischer Krankheiten hat sich in keinem Land der Welt bisher bremsen lassen.

Wer sich heute in einer Wohlstandsgesellschaft normal verhält, wird offenbar übergewichtig und krank. Um gesund zu bleiben, muss man sich täglich gegen die Versuchungen aus fetter und zuckriger Kost sowie körperlicher Inaktivität stemmen. Wie das geht, muss vor allem den Kindern beigebracht werden.

Ruf nach Nationaler Diabetesstrategie

"Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um den weiteren Anstieg der Diabeteserkrankungen und anderer chronischer Krankheiten zu verhindern", betont daher Garlichs in der Mitteilung und spricht sich hier für eine Nationale Diabetesstrategie und eine klare Präventionspolitik aus.

Vier Maßnahmen hat am Mittwoch eine Allianz gegen Nichtübertragbare Krankheiten, der auch die DDG angehört, gefordert: eine tägliche Sportstunde in der Schule, Qualitätsstandards für Kita- und Schulverpflegung, Verbot von Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richtet, sowie Steuern auf adipogene Lebensmittel. Solche Preissignale können sehr wirksam sein. So haben Steuern auf Tabakwaren die Rate jugendlicher Raucher deutlich vermindert.

Bei Diabetes muss auch aus gesundheitsökonomischen Gründen gehandelt werden. "Ohne Erfolge in der Prävention werden die Gesundheitskosten explodieren", betont DDG-Präsident Siegel. Schon heute liegen die Kosten von Diabetes und den Folgeerkrankungen bei jährlich 35 Milliarden Euro. "Nur wenn es uns gelingt, die Zahl der Erkrankungen langfristig zu verringern, werden wir die Kosten für eine bestmögliche Versorgung der Erkrankten auf Dauer aufbringen können", so Siegel

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