Positiver Kalkscore - Risikofaktor oder teurer Irrweg?

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Von Philipp Grätzel von Grätz

"Zu uns kommen immer mehr beschwerdefreie Menschen und halten den Befund einer koronaren Kalkscore-Messung in den Händen. Wir müssen diese Menschen dann entweder beruhigen oder eine Koronarangiographie machen, die wir im Normalfall nicht gemacht hätten".

Professor Erland Erdmann von der Klinik für Kardiologie der Universität Köln spricht vielen Kardiologen an Universitäten aus der Seele: Er sieht sich zunehmend mit gesunden Menschen konfrontiert, bei denen die moderne Diagnostik zu einem Dilemma geführt hat, aus dem es nur unbefriedigende Auswege gibt.

Kalziumkarbonat lagert sich in Plaques und Atheromen ab

Worum geht es? Mit Hilfe der modernen Mehrschichtcomputertomographie (MSC) können Bilder der Herzkranzgefäße in hoher Auflösung innerhalb eines einzigen Atemzyklus aufgezeichnet werden. Vor allem zwei Untersuchungen - die Kalkscore-Messung und die CT-Koronar-Angiographie -, die meist bei einer Untersuchung erledigt werden, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit.

Bei der koronaren Kalkscore-Messung wird der Kalkgehalt in atherosklerotisch veränderten Herzkranzgefäßen radiologisch gemessen. Plaques, Atherome und Fibroatherome in den Arterien enthalten Kalziumkarbonat in unterschiedlicher Menge. Solche verkalkten Gefäßwände haben radiologisch eine größere Dichte als nichtverkalkte Arterien.

Zur Kalkmessung gibt es verschiedene Verfahren. Beim traditionellen Agatston-Verfahren werden verkalkte Regionen auf den Bildern manuell markiert. Ein Programm errechnet dann den totalen Kalziumscore, der zwischen null und über 5000 liegen kann. Es gibt allerdings auch etwas anders ermittelte Volumen- und Massen-Scores. Als eigenständiger Risikofaktor gilt im allgemeinen ein Kalkscore jenseits der alters- und geschlechtsspezifischen 75. Perzentile, wobei die Daten überwiegend aus retrospektiven und Kohorten-Studien stammen.

Mit welcher Strahlenbelastung müssen die Patienten rechnen?

Ein wichtiges Thema bei radiologischen Untersuchungen ist die Strahlenbelastung. Bei einer herkömmlichen invasiven Angiographie hängt die Strahlenbelastung unter anderen davon ab, wie dick ein Patient ist, wie geübt der Untersucher ist und wie kompliziert eine Angiographie aufgrund anatomischer Gegebenheiten ist.

Unter günstigen Umständen muß man mit einer Strahlenbelastung von 1 bis 3 mSv (Milli-Sievert) rechnen; realistisch sind durchschnittlich 6 bis 8 mSv. Für die Kalkscore-Messung ist kein Kontrastmittel erforderlich. Die Strahlenbelastung liegt etwa bei einem Drittel einer herkömmlichen Koronar-Angiographie.

Bei der virtuellen KoronarAngiographie wird das Herz zunächst mit CT aufgenommen. Dann werden die proximalen und mittleren Abschnitte der Herzkranzgefäße anhand der CT-Daten dreidimensional rekonstruiert (virtuelle Angiographie) und auf Stenosen abgesucht. Die Strahlenbelastung entspricht etwa der einer konventionellen Angiographie. Es wird auch ähnlich viel Kontrastmittel gebraucht (etwa 100 ml). Moderne CT-Geräte ermöglichen eine Kalkscore-Messung innerhalb einer Atempause von zehn Sekunden. Für eine CT-Koronar-Angiographie sind 30 bis 45 Sekunden Luftanhalten nötig.

Die Kalkscore-Messung wird zur Vorsorge angeboten

Besonders die Kalkscore-Messung, die die Patienten selbst bezahlen müssen, wird als Vorsorgeuntersuchung propagiert, richtet sich also explizit an Patienten ohne thorakale Beschwerden. Die Rationale dahinter wird unter anderem von Professor Gerd Assmann von der Universität Münster nachdrücklich vertreten, etwa auf dem Europäischen Kardiologenkongreß in München.

Demnach erlaube die Kalkscore-Messung zusammen mit anderen Risikofaktoren eine viel präzisere Einschätzung des kardiovaskulären Risikos als mit herkömmlichen Scores. Die internationale Taskforce zur Prävention koronarer Herzerkrankungen (www.chd-taskforce.com) diskutiert deshalb in einem Thesenpapier eine routinemäßige Bestimmung des Kalk-Scores für jene 15 Prozent der Bevölkerung, die ein mittleres bis hohes kardiovaskuläres Risiko haben.

Mittleres Risiko (betroffen sind zehn Prozent der Bevölkerung) bedeutet gemäß dem in Deutschland gängigem PROCAM-Score ein Zehnjahresrisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis von zehn bis 20 Prozent. Hohes Risiko (etwa fünf Prozent der Bevölkerung) bedeutet ein Zehnjahresrisiko für ein kardiovaskuläre Ereignis von mehr als 20 Prozent.

Gemäß den neuen Empfehlungen der Taskforce rutschen Patienten mit mittlerem PROCAM-Risiko durch eine positive Kalkscore-Messung in die Kategorie hohes Risiko (Zehnjahres-Ereignisrate über 20 Prozent). Für Patienten mit hohem Risiko wird nun nicht mehr ein Ziel-LDL-Wert von maximal 100 mg / dl angestrebt, sondern von höchstens 70 mg / dl, wobei man sich mit dieser Empfehlung vor allem auf die PROVE-IT-Studie bezieht.

Welchen Patienten kann eine Kalkscore-Messung nutzen?

An diesen Kategorien orientiert sich auch Dr. Dirk Stein, Kardiologe an der Diagnoseklinik München. Er sieht einen Nutzen der Messung vor allem für Patienten, die im PROCAM-Score ein Zehnjahresrisiko von zehn bis 20 Prozent haben, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, die also zur mittleren Risikoklasse gehören.

"Wenn wir bei diesen Patienten einen unauffälligen Befund in der Kalkscore-Messung finden, dann können wir ihnen mit großer Sicherheit sagen, daß wenig Gefahr von Seiten der Herzkranzgefäße droht", so Stein zur "Ärzte Zeitung".

Umgekehrt steige das kardiovaskuläre Risiko bei einem pathologischen Kalkscore stark an. Stein empfiehlt den Betroffenen deswegen, Acetylsalicylsäure einzunehmen, was in der Primärprävention sonst nicht empfohlen werde. Außerdem bemüht er sich um eine verstärkte Senkung des LDL-Cholesterins, wie es auch die Taskforce fordert.

Strittig ist die Aussagekraft für das kardiovaskuläre Risiko

Um wie viel größer oder geringer das kardiovaskuläre Risiko allerdings wirklich wird, wenn eine Kalkscore-Messung positiv oder negativ ausfällt, ist genau der strittige Punkt. Kritiker der Methode wie Erdmann oder der Präsident des diesjährigen Internistenkongresses in Wiesbaden, Professor Manfred Weber von der Universität Köln, argumentieren, daß es für die Risikoabschätzung mit der Kalkscore-Messung keine Daten aus prospektiven Studien gibt. Die therapeutischen Konsequenzen, die empfohlen würden, seien spekulativ.

"Es gibt statistisch in der Tat eine Korrelation zwischen koronarem Kalkscore und Koronarstenosen, aber die biologische Bedeutung ist völlig unklar", so Erdmann. So hätten in einer aktuellen Studie von Dr. Philip Greenland von der Universität Los Angeles Patienten ohne bekannte KHK, aber mit einem kardiovaskulären Zehnjahresrisiko von zehn bis 20 Prozent, die zusätzlich einen pathologischen Kalkscore hatten, keine erhöhte Gesamtsterblichkeit innerhalb von sieben Jahren gehabt.

Positiver Kalkscore und erhöhte Ereignisrate waren assoziiert

In der Greenland-Studie starben Menschen mit positivem Kalkscore zwar nicht eher als Menschen ohne positivem Score, hatten allerdings eine höhere kardiovaskuläre Ereignisrate. Das wird von Befürwortern als Argument für die Methode angebracht. In der vor allem diskutierten Gruppe mit mittlerem koronarem Risiko trat der Endpunkt "tödliches koronares Ereignis plus nicht-tödliche Myokardinfarkte" über sieben Jahre bei etwa zwölf Prozent der Patienten auf, und damit etwa doppelt so häufig wie bei jenen mit unauffälligem Kalkscore.

Ein negativer Kalkscore war in dieser Studie allerdings kein Grund zur Entspannung: Bei den Betroffenen im mittleren Risikosegment traten ohne pathologischen Kalkscore so viele Ereignisse auf, wie man sie aufgrund der traditionellen Risikoabschätzung hätte erwarten dürfen, also etwa ein Prozent pro Jahr. Ältere, retrospektive Erhebungen vor der Greenland-Studie hatten aber ganz andere Ergebnisse.

Eine definitive Klärung erwartet man sich jetzt von der MESA-Studie (Multiethnic Study of Artherosclerosis), in der prospektiv randomisiert bei über 6000 Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko der Wert der Kalkscores geprüft wird. Prospektive Daten, die belegen, daß Patienten mit pathologischem Kalkscore von einer intensiveren Senkung des LDL-Cholesterin, etwa auf 70 mg / dl, stärker profitieren als Menschen mit normalem Kalkscore in der selben Risikogruppe, gibt es bislang nicht.

Kalkscore-positiv wird zum Spottwort in Katheterlaboren

"Das Problem ist, daß immer mehr Patienten mit einer nicht ausreichend evaluierten Untersuchungsmethode verunsichert werden", so Erdmann zur "Ärzte Zeitung". Die Zahl unnötiger Koronar-Angiographien steige an, weil es oft nicht gelinge, die Betroffenen und ihre nicht minder verunsicherten Hausärzte zu beruhigen. "Kalkscore-positiv" entwickelt sich zum geflügelten Spottwort im universitären Katheterlabor.

Auch Stein macht diese Entwicklung Sorge: "Ausschließlich aufgrund einer Kalkscore-Messung eine Koronarangiographie zu machen, ist Unfug", so der Münchener Kardiologe zur "Ärzte Zeitung".

Was er seinen Patienten mit positiven Kalk-Scores - außer mit dem Rauchen aufzuhören oder Hochdruck und Diabetes gut zu einzustellen - allerdings noch empfiehlt, ist ein Belastungs-EKG oder eine Myokard-Szintigraphie. Die Untersuchungen könnten aber auch ohne vorherige CT gemacht werden.

Lesen Sie dazu auch: Eine faszinierende Methode, aber noch nicht für den Alltag

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