Streit um Statistik

Wenn HIV-Selbsttests falsch anschlagen

Die Packungsbeilagen etlicher HIV-Selbsttests sind fahrlässig unvollständig: Über die eher geringe Wahrscheinlichkeit, bei einem positiven Test tatsächlich infiziert zu sein, erfahren Anwender nichts.

Christoph WinnatVon Christoph Winnat Veröffentlicht:
HIV-Selbsttests sind seit Oktober in Apotheken frei erhältlich.

HIV-Selbsttests sind seit Oktober in Apotheken frei erhältlich.

© Thierry Roge / Belga Photo / dpa

BERLIN. Müssen Ärzte ihren Patienten medizinische Statistik erklären? Wenigstens die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Gebiet mit ergoogeltem Halbwissen bombardiert zu werden, dürfte ausgesprochen gering sein. Auch ergibt sich im Praxisalltag wohl eher selten die Notwendigkeit zu derart akademischer Erörterung.

Ein Beispiel, bei dem es immerhin drauf ankäme – HIV Selbsttests –, wurde kürzlich in der Publikationsreihe „Unstatistik des Monats“ vorgestellt, die verantwortet wird von dem Psychologen Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding Zentrums für Risikokompetenz in Berlin, Professor Walter Krämer vom Lehrstuhl für Statistik der TU Dortmund sowie dem Vizepräsidenten des RWI Essen, Professor Thomas Bauer.

Federführend bei der aktuellen „Unstatistik“ war der Psychologe Gigerenzer, der moniert, dass die seit Oktober vorigen Jahres in Apotheken frei erhältlichen HIV-Schnelltests Anwendern keinerlei verständliche Erklärung mit an die Hand geben, wie ihre Ergebnisse insbesondere für den Fall zu lesen sind, dass sie positiv anschlagen. „Das wäre jedoch insbesondere für alle diejenigen wichtig, die ohne Arzt einen HIV-Selbsttest durchführen“, heißt es.

Nirgends erfahre ein Anwender, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion bei einem positiven Testergebnis tatsächlich ist. Stattdessen würden Anwender eher verunsichert.

„Sie sind wahrscheinlich positiv“

Gigerenzer verdeutlicht das an einem von der Deutschen Aids-Hilfe empfohlenen Antikörper-Test, der auch das europäische CE-Kennzeichen zugelassener Medizinprodukte trägt – und damit Vertrauenswürdigkeit suggeriert. In der Gebrauchsanweisung werde ein positives Resultat lediglich tautologisch kommentiert: „Sie sind wahrscheinlich HIV-positiv“.

Der gleiche Wortlaut sei auch in den Beipackzetteln anderer Schnelltests zu finden. „Ist ein positiver Test ein Todesurteil? Wie wahrscheinlich ist wahrscheinlich? Viele Menschen denken, das bedeutet, eher infiziert zu sein als nicht.“ Noch dazu erweckten Angaben und Erläuterungen zu Sensitivität (100 %) und Spezifität (99,8 %) in den Gebrauchsanweisungen den Anschein, „dass ein positives Ergebnis so gut wie sicher ist“.

Einer von 13

Tatsächlich betrage die Wahrscheinlichkeit für eine Infektion im Falle eines positiven Testergebnisses aber lediglich acht Prozent. „Anders ausgedrückt, die Wahrscheinlichkeit beträgt 92 Prozent, dass man nicht infiziert ist, wenn man im Schnelltest positiv testet“, so der statistisch versierte Berliner Psychologe. Bei Heterosexuellen ohne Risikoverhalten sei die Wahrscheinlichkeit sogar noch geringer, nämlich weniger als fünf Prozent.

Wo der Hund begraben liegt? Die Falsch-Alarm-Rate von 0,2 Prozent (bei 99,8 % Spezifität) muss auf die Grundgesamtheit der in Deutschland nicht Infizierten bezogen werden – nicht auf den einzelnen Test. Das aber wird den Anwendern nirgends erklärt.

Gigerenzers Rechenweg: Unter 69 Millionen Bundesbürgern über 18 Jahren sind geschätzt rund 11.400 HIV-infiziert, ohne davon zu wissen. (siehe nachfolgende Grafik).

Auf rund 6000 Deutsche kommt demnach ein Infizierter. Bei diesem wird der Selbsttest mit 100-prozentiger Sicherheit positiv ausfallen.

Bei 0,2 Prozent Falsch-Alarm-Rate sind weitere 12 Fälle zu erwarten, in denen der Selbsttest ebenfalls anschlägt (0,2 Prozent von 5999), obgleich sie keineswegs infiziert sind. „Das heißt, von insgesamt 13 Personen, die positiv testen, ist nur einer tatsächlich infiziert“. Und einer von 13 sind eben nur acht Prozent.

Dass ein falsch-positiver Test für betroffene Anwender keine Lappalie darstellt, versteht sich von selbst. Gigerenzer: „In ähnlichen Situationen haben Menschen über Suizid nachgedacht und ihn auch begangen – obgleich sie tatsächlich nicht infiziert waren – um Stigma und sozialer Diskriminierung zu entgehen, die immer noch mit Aids verbunden sind“.

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Kommentare
Dr. Marcus Mau 23.01.201907:39 Uhr

HIV-Selbsttest ist kein Screening-Test

Schade, dass der Autor hier offensichtlich nur die Pressemitteilung des RWI als Artikelgrundlage genutzt hat, die bereits Anfang Januar 2019 erschienen war. Bei fast drei Wochen Zeit wäre eine weitergehende Recherche und Beschäftigung mit dem Thema sicher möglich gewesen. Dabei wäre aufgefallen, dass die Rechnung des RWI schon von einer völlig falschen Grundannahme ausgeht: Der Selbsttest ist nämlich anders, als dort postuliert, eben kein Screening-Test für die deutsche Gesamtbevölkerung. Die Menschen, die den Test anwenden, haben durchaus ein höheres Risiko oder hatten einen Risikokontakt, der sie zum Test ermutigt. Das HIV-Infektionsrisiko ist also in der zu betrachtenden Gruppe von Menschen generell höher. Hinzu kommt, dass ein Test allein eben kein valides Ergebnis liefert. Ist der Selbsttest positiv, muss das Ergebnis in einem weiteren Labortest beim Arzt bestätigt werden. Sicher ist richtig, dass ein positives Testergebnis erst einmal ein Schock sein kann, allerdings haben Daten aus anderen Ländern, wie z. B. Frankreich, gezeigt, dass mit der Einführung solcher Selbsttests die Suizidalität eben nicht angestiegen ist. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Die meisten Menschen informieren sich zudem vorab über den Test, z. B. bei Beratungsstellen oder auch beim Arzt. In der Mitteilung des RWI und auch in diesem Artikel wird lediglich versucht, durch Fehlinformation auf der irrigen Grundlage einer Durchtestung der Gesamtpopulation einen sehr guten Präventionsansatz zu zerreden. Um das 90-90-90-Ziel der WHO zu erreichen, braucht es solche Selbsttests, denn es gibt eben nach wie vor Menschen, die sich der etablierten Präventionsarbeit aus vielerlei Gründen entziehen, aber über diesen Test erreicht werden können und so Zugang zur Versorgung finden.

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