Nach bizarren Szenen in Niedersachsen sind Praxisschließungen erst einmal vom Tisch

Kein Mundschutz beim Abstrich - das genügte, um eine Arztpraxis dicht zu machen. Ein vermummter Feuerwehrmann brachte abends die Anordnung zur Schließung.

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Hustet da jemand? Dann bitte schnell den Mundschutz aufsetzen!

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Von Christian Beneker

Fast sah es so aus, als dürfen Hausärzte in Deutschland ihre Praxen nur noch mit Handschuhen und Mundschutz betreten, schließlich könnten ja Schweinegrippe-Infizierte unter den Patienten sein. Wer sich nicht daran hielt, musste bis vor kurzem mit der Schließung der Praxis rechnen. Bei zwei Ärztinnen in Niedersachsen war das tatsächlich der Fall. Die Maßnahmen zeigen, wie schnell beim Infektionsschutz über das Ziel hinaus geschossen wird.

"Laut Verordnung gelten pflegerisches Personal und Ärzte, die direkt und ohne Schutzmaßnahmen H1N1-Patienten behandelt haben, als Kontaktpersonen der ersten Kategorie", so Dr. Markus Kirschner, Arzt am Landesgesundheitsamt (LGA) in Hannover. In Absprache mit dem LGA haben dann die Gesundheitsämter Salzgitter und Helmstedt den beiden Ärztinnen für sieben und zehn Tage das Arbeiten verboten.

Tatsächlich ist in der Region in den vergangenen Tagen gehäuft das Pandemie-Virus H1N1/09 diagnostiziert worden, so dass die Gesundheitsämter prompt regierten. Allein in Braunschweig zählt man derzeit neun Patienten mit H1N1 - aber allesamt mit mildem Verlauf.

Dr. Simone Modro-Splitt, hausärztliche Internistin aus Salzgitter, berichtet der "Ärzte Zeitung": "Nachdem ich bei einem meiner Patienten Abstriche gemacht habe und sich der Verdacht auf Schweinegrippe bestätigt hat, erhielt ich einen Anruf vom Gesundheitsamt - ich hätte jetzt Beschäftigungsverbot!" Die Kollegin hätte beim Abstrich einen FFP3-Mundschutz tragen müssen - dann wäre das nicht passiert, so ein Sprecher des Gesundheitsamtes. Dort berief man sich auf die Empfehlung des Robert-Koch-Institutes und der Landesgesundheitsämter. "Die Ärztin hätte sich und damit andere Patienten infizieren können", so der Sprecher.

Die Schließung trug groteske Züge: "Am Abend kam ein Mann von der Feuerwehr zu mir", amüsiert sich Modro-Splitt, "in Mundschutz und Handschuhen überreichte er mir die keimfreie Anordnung des Gesundheitsamtes, dass ich die Praxis zumachen müsse." Die Kollegin hatte bereits alle Patienten nach Hause geschickt in der Hoffnung, dass niemand ernstlich krank sei. "Ich kann sie ja schlecht untersuchen, wenn ich offiziell die Schweinegrippe im Haus habe."

Angst vor Schließung kann Meldepflicht unterminieren

Nach bizarren Szenen in Niedersachsen sind Praxisschließungen erst einmal vom Tisch

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Ähnliches widerfuhr der Hausärztin Petra Sobotta aus Schöningen. Sie behandelte einen jungen Mann. "Er hustete stark, und als ich erfuhr, dass er aus Spanien zurückgekehrt ist, habe ich natürlich Mundschutz und Handschuhe angezogen - zu spät." Das Gesundheitsamt Helmstedt schloss die Praxis bis Mitte dieser Woche. "Das kann ich verstehen", sagt Sobotta, zur "Ärzte Zeitung", "allerdings gab es dann viele Patienten, die mit dem Erkrankten Kontakt hatten, aber in unserer strukturschwachen Gegend kaum mehr eine Anlaufstelle fanden."

Die KV Niedersachsen kritisierte die Praxisschließungen denn auch. "In ohnehin unterversorgten Gebieten bekommen wir ein Sicherstellungsproblem", sagt Detlef Haffke, Sprecher der KVN, "außerdem haben die Kolleginnen Verdienstausfälle hinzunehmen." Schließlich würde durch die Androhung von Schließungen die Meldepflicht unter Umständen nicht mehr so ernst genommen, fürchtet man bei der KVN.

Die Probleme hat man offenbar auch beim Gesundheitsministerium in Hannover erkannt. Es hat am Montag eine neue Empfehlung verschickt: "In der Diskussion im Umgang mit Krankheitsfällen, Verdachtsfällen und Kontaktfällen habe ich im Kreis der Bundesländer und dem Robert-Koch-Institut vorgeschlagen, das Management der Isolierung und Tätigkeitsverbote nur auf Krankheitsverdächtige und Erkrankte zu beschränken", schreibt Dr. Fabian Feil für das Ministerium. Kontaktpersonen sollten lediglich informiert werden. Praxisschließungen sind damit vom Tisch.

Die neue Regelung werde in der kommenden Woche für alle Bundesländer gelten, hieß es. "Im Einzelfall können die Gesundheitsämter aber immer noch anders entscheiden", so Dr. Markus Kirschner vom LGA, "wenn etwa der betroffenen Arzt viele Patienten mit Immunschwächekrankheiten behandelt."

Schild an der Tür soll Grippekranke sensibilisieren

Offen ist die Frage des Honorarausfalles der beiden Ärztinnen. Nach Angaben von Kirschner können die Kolleginnen das verloren gegangene Honorar bei ihrem Landkreis zur Erstattung beantragen. "Sie müssen sich das Geld dann vom Landessozialamt zurück holen." Simone Modro-Splitt ist zurückhaltend: "Ich glaube kaum, dass ich das Geld erstattet bekomme."

Hausärztin Sobotta hat unterdessen Konsequenzen gezogen: "Ich habe ein Schild an die Tür gehängt", berichtet sie. "Darauf steht: Haben Sie Fieber? Fühlen Sie sich grippig? Dann klingeln und warten Sie bitte." "Auch wenn es blöd aussieht", sagt die Kollegin, "wir ziehen dann Handschuhe und Mundschutz über und holen den Patienten an der Tür ab. Noch einmal macht mir keiner den Laden dicht."

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Lesen Sie dazu auch: Kein Mundschutz: Behörden machen Arztpraxen dicht Länder bereiten Verträge für Kauf von Impfstoff vor

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