"Fortschritte, wie ich sie noch nie erlebt habe!"

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Die moderne Krebstherapie macht derzeit Fortschritte, wie ich sie noch nie erlebt habe!" Der das sagt, überblickt inzwischen vier Jahrzehnte onkologischer Forschung und Praxis in Deutschland sowie international: Professor Volker Diehl aus Köln.

Mit dem Onkologen sprach Thomas Meißner, Mitarbeiter der "Ärztlichen Allgemeinen", über neue Therapiekonzepte, die Notwendigkeit von Veränderungen der Versorgungsstrukturen und über Sterbehilfe. Diehl hat seit dem Jahr 2003 das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg mit aufgebaut.

Das ist eine Kooperation zwischen Universitätsklinik Heidelberg, Deutschem Krebsforschungszentrum, Deutscher Krebshilfe und der Thoraxklinik Heidelberg. Auf klinischer Seite wurden kooperative onkologische Gruppen gebildet, in denen Strahlentherapeut, Chirurg, Urologe und onkologischer Internist gemeinsam behandeln

Ärztliche Allgemeine: Herr Professor Diehl, ist man in der onkologischen Therapie mit Stahl, Strahl und Chemotherapie am Ende der Fahnenstange angekommen?

Diehl: Ich denke nicht! Es gibt neue Entwicklungen in der Chemotherapie, in der Strahlentherapie als auch bei operativen Techniken. Zusätzlich zu diesen drei klassischen Säulen der Krebstherapie gibt es neue Behandlungsoptionen, nämlich die Immuntherapie als auch molekulare Therapien. Damit treffen wir nicht Eiweiße und Rezeptoren auf der Oberfläche der bösartigen Zelle, sondern kommen in die Zelle hinein.

Fehlerhafte Wege der normalen Zellteilung und der Zelldifferenzierung können rückgängig gemacht werden, nachdem man erkannt hat, daß molekulare Veränderungen, chromosomale Aberrationen, Translokationen von Chromosomen-Teilen und Genübertragungen dahinter stecken. Therapeutisch versucht man jene Moleküle zu treffen, die aus der normalen Zelle eine Krebszelle machen.

Ärztliche Allgemeine: Und welche Behandlungsstrategien gibt es mit neuen chemotherapeutischen Substanzen?

Diehl: Beim Morbus Hodgkin haben wir zum Beispiel früher etwas unsensibel acht Substanzen hintereinander gegeben und nicht aufgepaßt, welche Substanzen für die Tumorzelle tatsächlich am gefährlichsten sind. Ende der 1970er Jahre hatten wir damit eine etwa 40prozentige Heilungsrate bei fortgeschrittenem Hodgkin-Lymphom.

Heute sind wir bei 80 bis 90 Prozent, und zwar nicht wegen neuer Moleküle oder Antikörper, sondern weil wir die acht Medikamente inzwischen intelligenter, sozusagen in einer neuen Chemotherapie-Architektur verabreichen und damit eine Dosisintensitätssteigerung von fast 40 Prozent erreichen.

Ärztliche Allgemeine: Mit den von Ihnen genannten neuen Therapieoptionen verbinden sich viele Hoffnungen. Wenn man sich dann allerdings die Ergebnisse mancher Phase-3-Studie anschaut, kann man sich eines gewissen Gefühls der Enttäuschung nicht erwehren. Sind die Erwartungen an Neuentwicklungen zu hoch?

Diehl: Wenn Sie von Ihrem zweijährigen Sohn verlangen würden, daß er 100 m in 11,3 Sekunden läuft, haben Sie falsche Erwartungen an die Entwicklung Ihres Sohnes. Es kann ja sein, daß er das in 15 Jahren tatsächlich mal in elf Sekunden schafft. Wir können uns heute glücklich schätzen, daß Brian Druker vom Krebsinstitut in Portland die Tyrosinkinase-Hemmer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Zelle eingesetzt hat, daß Imatinib das Bcr-Abl-Killergen ausschalten kann.

Druker, der gerade in Berlin den mit 100 000 Euro dotierten Robert-Koch-Preis erhalten hat, hat uns den Glauben an die gezielte molekulare Herangehensweise an die Tumorzellen (targeted therapy) zurückgegeben. Er hat bei der Preisverleihung in Berlin gesagt: Als Robert Koch das Tuberkelbakterium gefunden hat, hatte er die Ursache der Tuberkulose gefunden. Und wenn wir die Ursache finden, können wir die Krebskranken auch heilen!

Ärztliche Allgemeine: Was bedeutet das?

Diehl: Das heißt, wir müssen jetzt nicht irgendwelche unwichtigen aberranten Moleküle in der Zelle suchen. Was wir finden müssen für das Bronchialkarzinom, für das Mammakarzinom oder für das Non-Hodgkin-Lymphom, ist ein Bcr-Abl-Gen wie bei der chronischen myeloischen Leukämie, das aus einer Fusion von zwei verschiedenen Genen entsteht und die Normalzelle zur Tumorzelle macht. Dann gilt es, ein Molekül zu finden wie das Imatinib, das genau an einer Nische ansetzt und dieses Krebsgen blockiert. Wenn wir das haben, können wir solche Tumoren auch in vier Wochen zum Stillstand bringen oder gar zurückdrängen.

Ärztliche Allgemeine: Welche Erkenntnisse lassen sich anhand solcher Therapien gewinnen?

Diehl: Wir merken bei den molekularen Therapien mehr und mehr, daß Krebs nicht ein monogenetisches Ereignis ist, sondern daß Tumorzellen wilde, intelligente und bösartige Wesen sind, die bei Ausschaltung eines Gens immer noch ein anderes Gen haben, das die Zelle weiter überleben läßt. Wir brauchen also einen multifaktoriellen Ansatz. Was wir suchen, ist der Hauptschalter im Keller, meist setzen wir mit unseren Therapien noch oben im Badezimmer an. Die moderne Krebstherapie macht aber derzeit Fortschritte in einer Weise, wie ich es nie zuvor erlebt habe - und ich forsche und beobachte das Feld seit nunmehr 40 Jahren. Was auf diesem Gebiet gerade passiert, ist noch nie da gewesen!

Ärztliche Allgemeine: Die Krebstherapien werden bei den einzelnen Tumorarten immer differenzierter und komplexer. Gerade für kleine Krankenhäuser ist das nicht nur eine fachliche, sondern auch eine logistische Herausforderung. Können Krankenhäuser der Regelversorgung oder auch onkologische Praxen das künftig überhaupt noch leisten?

Diehl: Bislang hatten wir ein Haus der Chirurgie, ein Haus der Strahlentherapie, jedoch kein richtiges Haus der internistischen Onkologie. Chemotherapien hat jeder gemacht, weil es leicht erschien, eine Spritze in die Hand zu nehmen und ein Zytostatikum zu verabreichen. Weil wir in Deutschland strukturelle Probleme haben, haben Krebspatienten in Deutschland im internationalen Vergleich eine geringere Chance, die Segnungen der modernen Onkologie in Anspruch zu nehmen und damit zum Teil schlechtere Überlebenschancen. In anderen Ländern darf nur derjenige Chemotherapien vornehmen und kriegt nur jener seine Tätigkeit bezahlt, der eine Qualifizierung nachweisen kann.

Mit den neuen komplexen Therapien geht es nicht mehr, daß der Chirurg, der HNO-Arzt, der Urologe und der Radiotherapeut ohne nachgewiesene Kompetenz Patienten auch hochtoxische komplexe Kombinationstherapien verabreicht. Er braucht dazu den Spezialisten für die Systemtherapie, und das ist von seiner Ausbildung her in erster Linie der Klinische Onkologe.

Ärztliche Allgemeine: Und wie soll das dann in Zukunft anders ablaufen?

Diehl: Wir haben auch im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, einer Kooperation zwischen Universitätsklinik, Deutschem Krebsforschungszentrum, Deutscher Krebshilfe und Thoraxklinik Heidelberg, beschlossen, dies jetzt zentral zu machen unter der Aufsicht des Experten, nämlich des internistischen Onkologen. Hinzu kommen neue multimodale Therapiekonzepte, etwa die präoperative, neoadjuvante Chemotherapie oder die intraoperative Bestrahlung. Auch der Chirurg muß spezialisiert sein und eine gewisse Zahl von Operationen mit einer bestimmten Operationstechnik absolviert haben.

Im Bereich der immer komplizierter werdenden Onkologie kann das nicht jedes kleine Krankenhaus leisten und auch nicht jeder niedergelassene Arzt. Dazu ist nur der Onkologe in der Lage, der sich zugleich auf diesem Gebiet permanent fortbildet und dies auch nachweisen muß. Damit geben wir diese Therapien in Zentren oder Institutionen mit einem Kollegium kompetenter Fachleute hinein, die die Versorgungsmodule für den Patienten wie ein Mosaik zusammenfügen, was ein Höchstmaß an Qualität garantiert.

Ärztliche Allgemeine: Wenn nur noch Zentren dieser Aufgabe gewachsen sind, könnte es nicht ein Problem in der Breitenversorgung von Krebspatienten geben?

Diehl: Wir bräuchten in Deutschland sicher zehn bis zwölf integrierte Tumorzentren, sogenannte "Comprehensive Cancer Centers" im amerikanischen Sinn, wo die höchste Form der Expertise gegeben ist. Diese müßten mit regionalen Krebszentren eng zusammenarbeiten und gemeinsam Studien und Fortbildungsveranstaltungen machen. Die regionalen Zentren würden die Kompetenz weiter in die Peripherie tragen und regional niedergelassene Ärzte und kleine Krankenhäuser mit einbinden.

Ärztliche Allgemeine: Sie haben das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen seit 2003 mit aufgebaut. Wie weit ist die Entwicklung dort inzwischen gediehen?

Diehl: Ich habe den Ausbau des Zentrums jetzt in die Hände von zwei jüngeren Mitarbeitern gelegt, Professor Christof von Kalle und Privatdozent Dirk Jäger, die die translationale Forschung und die Klinische Onkologie übernommen haben, das heißt, die Übertragung wissenschaftlicher Ergebnisse in die tägliche Praxis und die Koordination der klinischen Onkologie zwischen operativer, radio-onkologischer und internistisch-onkologischer Expertise.

Auf der klinischen Seite haben wir kooperative onkologische Gruppen gebildet, in denen der Strahlentherapeut, der Chirurg, der Urologe und der onkologische Internist gemeinsam nach festgelegten Prinzipien und Standards behandeln und in Konferenzen Problemfälle sehen und gemeinsame Strategien festlegen. Der Patient hat damit stets eine ganze Gruppe von Fachleuten vor sich. Dazu gehören natürlich auch eine klare Dokumentation sowie die qualifizierte Nachsorge und Qualitätskontrolle. Geklärt wird zudem, inwiefern primär sehr toxische Therapien zur Entwicklung kardiologischer oder pulmologischer Zweiterkrankungen oder gar Sekundärtumoren nach Jahren und Jahrzehnten führen.

Ärztliche Allgemeine: Professor Diehl, kurative Medizin ist das eine. An der palliativmedizinischen Versorgung in Deutschland wird immer wieder Kritik geäußert. Gerade ist die Diskussion um aktive Sterbehilfe wieder aufgeflammt. Wo sehen Sie dort Verbesserungsbedarf, und wie stehen Onkologen in Deutschland zur Sterbehilfe?

Diehl: Ich denke, in fast allen großen Kliniken hat man inzwischen erkannt, daß man ohne palliativmedizinische Stationen nicht mehr auskommt. Damit meine ich nicht nur Hospize. Denn es gibt für viele Patienten nicht nur ein Leben nach dem Krebs, sondern viele müssen mit dem Krebs leben. Auch brauchen wir mehr Psychologen, die bisher von den Krankenkassen nur sehr vereinzelt bezahlt werden. In den USA sind in der Survivorship-Bewegung zehntausende Krebspatienten organisiert und treffen sich zu Sportveranstaltungen oder feiern Feste. Das haben wir hier im Haus LebensWert e.V. in Köln ebenfalls modellhaft angefangen.

Ärztliche Allgemeine: Was ist das Besondere an dieser Einrichtung?

Diehl: Es ist ein Haus für die Patienten, die durch Diagnose und Therapie den Anschluß an das "normale" Leben verloren haben. Ein Haus, wo wir uns um die Patienten kümmern, die nach der Therapie mit dem Leben nicht mehr zurandekommen. Dort angeboten werden zum Beispiel Musik-, Mal- und Bewegungstherapie. Wir haben einen Chor und eine Tanzgruppe gegründet, gehen gemeinsam ins Theater, und so weiter. Wir fangen dort die Patienten auf, wenn sie noch im Leben sind, kümmern uns aber auch um sie, wenn das Leben zu Ende geht.

Ich bin überzeugt, die Sterbehilfe wird in Deutschland nicht so stark an Boden gewinnen wie in der Schweiz oder in den Niederlanden. Es gibt zweifellos Situationen, in denen der Arzt dem Patienten den Sterbeprozeß erleichtern oder sogar verkürzen muß. Das ist nicht eine Beendigung des Lebens, sondern eine Beendigung des Sterbeprozesses. Das ist richtig, und das muß intensiv mit Betroffenen, Ärzten, Ethikern und Juristen besprochen werden. Denn für diese schwerste Aufgabe des Arztes gilt es, Klarheit zu schaffen.

Ärztliche Allgemeine: Was verstehen Sie unter Beendigung des Sterbeprozesses?

Diehl: Ein Patient, den ich über Jahre begleitet habe und bei dem ich als erfahrener Arzt absehe, daß dieses Leben in Kürze zu Ende geht und der Patient außerordentlich leidet, etwa wegen eines Ileus und massiven Aszites, muß der Arzt diesem Patienten das Leiden lindern, zum Beispiel durch Schmerzmittel und Psychopharmaka. Das heißt nicht, den Sterbeprozeß zu beschleunigen, aber ich sorge dafür, daß der Betroffene dieses Ende nicht mehr schmerzvoll durchleidet.

Ärztliche Allgemeine: Das heißt aber auch, daß es eine scharfe Trennung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht gibt und daß es auch immer wieder um eine individuelle Entscheidung geht.

Diehl: So ist es. Es gibt kein Schwarz und Weiß, es gibt eine Grauzone dazwischen, die individuell durch den erfahrenen, ethisch verantwortlichen und moralisch gefestigten Arzt bewältigt werden muß. Ich bin praktizierender Christ und habe mein Handeln immer vor dem Herrgott und den Menschen, die mich um Hilfe gebeten haben, verantworten müssen.

Eines der trostvollen Dinge in meinem Berufsleben war immer, daß ich einem Patienten, dem ich keine Heilung mehr versprechen oder sagen konnte, wie lange er noch zu leben hat, versprechen konnte: Der letzte Schritt auf dem Weg aus dieser Welt, der am schwersten wird und vor dem man am meisten Furcht hat, diesen Weg wirst du mit meiner Unterstützung gehen, ohne daß du leiden mußt. Das ist eine unendlich große Hilfe, wie ich in meiner eigenen Familie erfahren habe. Das ist der letzte und größte Akt der Nächstenliebe.

Professor Volker Diehl aus Köln ist Onkologe und Hämatologe. Seit dem Jahre 2003 hat er das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg mit aufgebaut.

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