Mehr Lebenszeit

Was neue Onkologika tatsächlich bringen

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Neue Onkologika haben die Überlebenszeit von Krebspatienten in den vergangenen zwölf Jahren im Schnitt um 3,4 Monate verlängert. Dieser Vorteil geht oft zulasten der Sicherheit.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Neue Onkologika verlängern die Überlebenszeit von Krebspatienten, allerdings nicht selten mit erheblichen Nebenwirkungen.

Neue Onkologika verlängern die Überlebenszeit von Krebspatienten, allerdings nicht selten mit erheblichen Nebenwirkungen.

© Mathias Ernert, Praxis für Innere Medizin, Dr. Hieber, Mannheim

Die teilweise immensen Preise neuer Arzneien in der Onkologie befeuern eine lebhafte Kosten-Nutzen-Diskussion: Ist es zu rechtfertigen, für ein neues Medikament einen vielfach höheren Preis zu bezahlen, wenn es das Leben nur geringfügig verlängert? Oder anders ausgedrückt: Wie viel darf ein Monat mehr Lebenszeit kosten? In einigen Ländern machen sich Behörden intensiv Gedanken um solche Fragen und veranlassen regelmäßig eine Technologiefolgenabschätzung im Gesundheitswesen. So werden für jeden neuen Wirkstoff die potenziellen Auswirkungen auf die klinische Praxis beurteilt.

Ein Team um Dr. Sebastian Salas-Vega von der London School of Economics and Political Science hat sich nun Berichte zu sämtlichen zwischen 2003 und 2015 neu zugelassenen Krebsmitteln angeschaut, die in Großbritannien, Frankreich und Australien erstellt wurden. Sie stammten jeweils vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE), der Haute Autorité de Santé (HAS) und vom Pharmaceutical Benefits Advisory Committee (PBAC).

53 Krebsmittel evaluiert

Die Gesundheitsökonomen konzentrierten sich dabei auf Angaben zum Gesamtüberleben, zur Lebensqualität und zur Sicherheit. Ausgewertet wurden Daten zu 62 von der FDA und der EMA neu zugelassenen Wirkstoffen, und zwar ausschließlich solchen mit einer onkologischen Primärindikation. Die Evaluation erfolgte nur für die Primärindikation; neben klinischen Studiendaten verwendeten die Behörden dafür auch indirekte Vergleiche und Modellrechnungen. Von den 62 Wirkstoffen waren 53 zum Zeitpunkt der Analyse von mindestens einer Behörde evaluiert worden.

Für 23 der 53 Wirkstoffe (43%) stellte mindestens eine Behörde ein verlängertes Gesamtüberleben von mehr als drei Monaten fest. Am besten schnitten hier Pertuzumab (Brustkrebs) mit 15 Monaten, Sunitinib (Nierenkrebs) und Azacitidin (Hämatoonkologie) mit jeweils zehn Monaten sowie Bortezomib (Hämatoonkologie) mit neun Monaten ab.

Bei sechs Wirkstoffen (11%) ergaben die Analysen einen Vorteil von maximal drei Monaten, 16 Arzneien (30%) attestierten die Behörden keine Lebenszeitverlängerung im Vergleich zu den bisherigen Therapeutika, entweder weil sie keine Unterschiede sahen oder eine Beurteilung mangels Evidenz nicht möglich war. Bei den übrigen acht Wirkstoffen (15%) fanden die Behörden einen Vorteil beim Gesamtüberleben, hatten diesen aber nicht näher bestimmt.

Die Forscher um Salas-Vega versuchten nun den Gesamtbenefit über zwölf Jahre hinweg zu berechnen. Sie schauten bei jedem neuen Medikament, wie viel Lebenszeit es mehr brachte als dasjenige, das es ersetzen konnte, und berechneten daraus den durchschnittlichen Zeitgewinn. Danach wurde durch neue Medikamente das Leben von Patienten mit Tumoren zwischen 2003 und 2015 um 3,4 Monate verlängert.

8,5 Monate mehr Lebenszeit bei Brustkrebs

Allerdings berechneten die Forscher starke Unterschiede für die einzelnen Indikationen: Danach lässt sich das Gesamtüberleben bei Schilddrüsentumoren durch neue Arzneien überhaupt nicht verlängern, bei Brusttumoren hingegen um 8,5 Monate. Dazwischen liegen Lungenkrebs (2,1 Monate), hämatologische Tumoren (2,6 Monate), Magen-Darm-Krebs (2,9 Monate), Prostatakarzinome (3,2 Monate), Hautkrebs (4,7 Monate) sowie Nierenkrebs (6,3 Monate).

Mindestens eine Behörde fand bei 22 der 53 evaluierten Wirkstoffe (42%) einen Vorteil bei der Lebensqualität, bei 28 (53%) war dies nicht der Fall. Für zwei der Arzneien wurde ein Nachteil festgestellt, bei einem waren die Schlussfolgerungen widersprüchlich.

Eine Verbesserung der Lebensqualität sehen die Berichte vor allem bei denjenigen Arzneien, die das Gesamtüberleben um mehr als drei Monate verlängern. Dies betraf 65% solcher Medikamente, bei den übrigen 35% stellten sie zumindest eine gleichbleibende Lebensqualität fest.

Nur acht der 53 Präparate (15%) attestierten die Behörden eine verbesserte Sicherheit im Vergleich zur bisherigen Therapie, das Gegenteil war jedoch bei 24 Arzneien (45%) der Fall. Keinen Unterschied zur Standardtherapie sahen die Berichte bei elf Wirkstoffen (21%), bei den übrigen kamen sie zu divergierenden Schlüssen.

Am häufigsten fanden sie für solche Medikamente Einbußen bei der Sicherheit, die eine Lebensverlängerung von mehr als drei Monaten im Vergleich zur bisherigen Therapie ermöglichten – hiervon war die Hälfte betroffen. Nur fünf Medikamente in dieser Gruppe (22%) verbesserten die Sicherheit.

Für 42 der evaluierten Medikamente (79%) fanden die Behörden zumindest in einem der drei Bereiche Gesamtüberleben, Lebensqualität und Sicherheit einen Vorteil, woraus sich umgekehrt der Schluss ziehen lässt, dass jedes fünfte neue Medikament in diesen Feldern überhaupt keinen Zusatznutzen hat.

Die Autoren der Analyse halten es jedoch für ermutigend, dass immerhin mehr als vier von zehn neuen Onkologika das Leben um mehr als drei Monaten im Vergleich zur bisherigen Therapie verlängern – bei drei Monaten setzen britische und australische Behörden das Limit für einen klinisch bedeutsamen Überlebensvorteil. Auch eine durchschnittliche Lebenszeitverlängerung von 3,4 Monaten über zwölf Jahre hinweg sei nicht schlecht, da "sogar kleine Verbesserungen beim Überleben die Mortalität in der Gesamtbevölkerung senken können", schreiben sie.

Zu bedenken gebe jedoch der ungleich verteilte Nutzen – bei vielen Tumoren lässt sich kein klarer Benefit durch neue Onkologika erkennen. Dies werfe die Frage auf, ob hier die höheren Preise neuer Arzneien zu rechtfertigen seien. Bei den übrigen gingen die Vorteile beim Gesamtüberleben häufig zulasten der Sicherheit. Hier müsse im Einzelfall eine gründliche Risiko-Nutzen-Evaluation erfolgen.

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