Arbeitsmediziner erforschen das dritte Auge

TÜBINGEN (ars). Urtümliche Lebewesen trugen es auf der Stirn oder am Hinterkopf, doch wo sitzt es beim Menschen? Gemeint ist das dritte Auge, das den Körper an den Wechsel von Tag und Nacht anpaßt. Das alte Rätsel wurde jetzt gelöst: Es sind spezialisierte Nervenzellen in der Netzhaut. Besonders Arbeitsmediziner interessieren sich dafür.

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Daß es ein "drittes Auge" unabhängig von der gewöhnlichen Sehfähigkeit geben mußte, war schon länger offensichtlich, wie Dr. Barbara Wilhelm von der Tübinger Augenklinik berichtet hat. Denn selbst Blinde haben einen Tag-Nacht-Rhythmus: Auch bei ihnen verändern sich biologische Funktionen - die Arbeit der Nieren, die Ausschüttung von Hormonen, Puls oder Blutdruck - über 24 Stunden nach einem bestimmten Muster.

Auch bei Blinden zieht sich die Pupille tagsüber zusammen

    Die Entdeckung des zentralen Zeitgebers war eine Sensation.
   

Außerdem zieht sich trotz der Blindheit die Pupille tagsüber zusammen und weitet sich bei Dunkelheit. Doch wo sich dieses "Auge für die Innere Uhr" befindet, war unerklärlich.

Forscher haben nun "sehende" Ganglienzellen in der Netzhaut entdeckt. Sie liegen vereinzelt - mit einem Anteil von bloß zwei Prozent - zwischen den normalen Ganglienzellen, denen die Aufgabe obliegt, die elektrischen Reize von Stäbchen und Zapfen ans Gehirn weiterzuleiten.

Die "sehenden" Ganglienzellen dagegen, äußerlich nicht von ihren Gefährten zu unterscheiden, enthalten das entwicklungsgeschichtlich alte Pigment Melanopsin. Es ist mit dem Sehpurpur (Rhodopsin) der Zapfen und Stäbchen eng verwandt.

"Die Entdeckung dieses zentralen Zeitgebers war eine große Sensation", so Wilhelm bei der 89. Tagung der Württembergischen Augenärztlichen Vereinigung. Erforscht wurde der Mechanismus an Mäusen, die infolge eines genetischen Defekts keine Zapfen und Stäbchen mehr bilden konnten.

Doch auch bei den absolut blinden Mäusen war der zirkadiane Rhythmus, das dauerhafte Engstellen der Pupille bei Licht sowie der Wechsel zwischen einem Melatonin-Tal bei Tag und einem Melatonin-Berg bei Nacht erhalten geblieben. Das Hormon Melatonin, von der Zirbeldrüse produziert, fördert den Schlaf. Die rhythmischen Schwankungen verebbten erst, wenn den Mäusen zusätzlich noch das Pigment Melanopsin fehlte. Bald gelang es, eben jene Ganglienzellen in der Netzhaut aufzuspüren, die das Melanopsin enthielten.

Durch Markierung ließen sich auch die Nervenbahnen nachzeichnen, auf denen die Signale des "dritten Auges" zu bestimmten Nervenzellkernen ins Gehirn gelangen. Sie stellen die Befehlsempfänger dar, die schließlich die biologischen Zyklen steuern. Mittlerweile gibt es erste Hinweise, daß die "sehenden" Ganglienzellen auch beim Menschen aktiv sind. Damit haben selbst jene, die stark sehbehindert oder gar blind sind, die Gewißheit, daß bei ihnen die "Innere Uhr" trotzdem funktioniert - sofern der Sehnerv intakt ist.

Das hat auch klinische Konsequenzen: So wäre es möglich, daß Bestandteile der "Inneren Uhr" etwa bei Unfällen geschädigt wurden. Herausfinden ließe sich das durch Befragen von Verkehrsopfern, bei denen man dann vielleicht den Ausfall des Tag-Nacht-Rhythmus mit einer Melatonin-Therapie beheben könnte.

Weiter hat sich herausgestellt, daß die "sehenden" Ganglienzellen des Menschen auf blaues Licht der Wellenlänge 460 Nanometer besonders empfindlich reagieren. Dieses Licht unterdrückt den Melatoninanstieg bei Nacht am stärksten und verschiebt die zirkadianen Phasen am wirksamsten. Mit Lampen, die blaues Licht betonen, könnten sich Arbeiter daher vermutlich leichter als ohne solches Licht an Nachtschichten anpassen. Die Vermutung habe sich in einer bisher unpublizierten Studie bei VW bestätigt, so Wilhelm.

Wie wirkt sich blaubetontes Licht tagsüber aus?

Mittlerweile haben sie und ihre Kollegen abermals in einem großen Unternehmen untersucht, wie sich blaubetontes Licht auswirkt, und zwar tagsüber: Bei Arbeitern am Band haben sie Schläfrigkeit, Sehvermögen, Kontrast- und Farbsehen gemessen. Die Resultate werden mit Spannung erwartet.



Lichtempfindliche Zirbeldrüse

Daß der Mensch ein "drittes Auge" besitzt, genannt das "Auge der Erleuchtung", wird in Geheimlehren des Ostens seit Tausenden von Jahren behauptet. Bei urwüchsigen Tieren - Fischen, Amphibien, Reptilien, vielen Vögeln - gibt es tatsächlich ein zusätzliches lichtempfindliches Organ: die Zirbeldrüse. So hat eine neuseeländische Echse (Tuatera) in der Mitte des Schädels eine Spalte, die mit einer durchsichtigen Membran überzogen ist, so daß von dort Licht auf die Zirbeldrüse fallen kann. Auf diesem Weg wird zum Beispiel der Farbwechsel der Haut gesteuert. Descartes vermutete in der Zirbeldrüse gar den Sitz der Seele, weil sie nicht paarig angelegt sei. Bei Säugetieren enthält die Drüse zwar noch Reste von Rhodopsin, aber Lichtreize gelangen bei ihnen nur indirekt, über Retina, Sehnerv und Hypothalamus, dorthin. (ars)

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