HINTERGRUND

Selbstverursachte und vorgetäuschte Krankheiten - dahinter steckt häufig der Wunsch nach Zuwendung

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Wege zur richtigen Diagnose

"Wenn Menschen krank spielen" ist ein umfassendes Werk zum Thema artifizielle Störungen, das Ärzten Wege zur richtigen Diagnose und zum Umgang mit den Patienten und erschließen soll. Autor ist Marc D. Feldman, Professor für Erwachsenen-Psychiatrie in Birmingham in den USA. Er ist Spezialist für artifizielle Störungen und Münchhausen-Syndrom. In seinem jetzt erschienen Buch stellt Feldmann auch die hier beschriebenen Kasuistiken vor. (nsi)

Marc D. Feldman: Wenn Menschen krank spielen. Münchhausen-Syndrom und artifizielle Störungen. Ernst Reinhardt Verlag München, 2006, 273 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 3 -497-01836-8. 

Etwa zwei Prozent der Patienten, die in Deutschland Allgemeinmediziner und Dermatologen aufsuchen, verursachen ihre Krankheiten oder Symptome selbst. Sie binden personelle Ressourcen und verursachen teilweise immense Kosten.

Ärzte, die artifizielle Störungen oder das Münchhausen-Syndrom nicht erkennen, die Patienten falsch behandeln und ihnen dadurch einen Schaden zufügen, können rechtlich belangt werden.

Betroffene haben ihr Verhalten nicht unter Kontrolle

Menschen mit artifiziellen Störungen oder dem Münchhausen-Syndrom können ihr Verhalten nicht mehr richtig kontrollieren. Ein Beispiel: Als die 31jährige Rhonda mit ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin beginnt, trägt sie eine Beinschiene und hinkt - Relikt eines schweren Autounfalls, wie sie erzählt.

Dann erkrankt angeblich ihre Mutter an Krebs und stirbt, kurz darauf sagt Rhonda, daß sie vergewaltigt wurde, fühlt sich wenig später schwanger und berichtet von einer Fehlgeburt.

Schließlich gibt Rhonda vor, Brustkrebs zu haben, erzeugt Übelkeit und Erbrechen, nimmt ab, wird immer elender, sucht mehrere Ärzte auf. Als ihr Lügengebäude nach vielen Monaten allzu komplex geworden ist, fliegt der Schwindel auf.

Dieser Bericht stammt aus einem neuen Buch des US-Psychiater Marc D. Feldman. Seine Diagnose ist eine artifizielle Störung. Dabei hat die Patientin ihre Umwelt zwar bewußt getäuscht, sie ist aber noch beruflich und sozial integriert.

Dagegen manipulieren oder verletzen Patienten mit Münchhausen-Syndrom ihren Körper, lassen sich stationär einweisen, vor allem in die Notaufnahme, verlassen dann aber die Klinik auf eigenen Wunsch und lassen eine Spur ständiger Beziehungsabbrüche hinter sich. Sie geben häufig auch falsche Personalien und falsche Informationen zu ihrer Krankheitsgeschichte an.

Vorgetäuscht wird alles, was möglich ist, Blut, Urin und Kot sind dabei von großer Bedeutung. Feldmans Patientin Rebecca, eine 30jährige Laborangestellte, erzeugte durch regelmäßigen Aderlaß eine Anämie, die zu Ohnmachtsanfällen und Schwächezuständen mit häufigen stationären Notaufnahmen führten. Erst als deutlich wurde, daß sich die Anämie im Krankenhaus besserte, bei ambulanter Betreuung regelmäßig aber wieder auftrat, schöpfen die Ärzte Verdacht.

Andere Patienten nehmen Antikoagulantien, um Blutungen zu erzeugen, oder schlucken Blut, um Blut zu husten, oder sie infizieren die Haut durch bakterienverseuchte Lösungen und verzögern die Wundheilung mit Hilfe von Kot. Die Krankheitsbilder sind bisweilen so schwer, daß operiert und gelegentlich amputiert werden muß. Auch innere chronische Erkrankungen können künstlich erzeugt sein: Schilddrüsenüberfunktionen durch Schilddrüsenhormone, eine Unterzuckerung durch Antidiabetika.

Da medizinische Kenntnisse und der Zugang zu Medikamenten Voraussetzung sind, werden solche Krankheiten häufiger von Menschen aus Gesundheitsberufen vorgetäuscht. Feldman berichtet von einer Frau, die jahrelang Krebs vorgetäuscht hatte und später mehrere Ärzte verklagte, weil diese sie nicht wegen ihres Münchhausen-Syndroms behandelt hatten, sondern wegen des Verdachts auf Krebs. Die Versicherungen der Ärzte fochten den Streit nicht aus, sondern einigten sich auf einen Vergleich und zahlten mehrere hunderttausend Dollar Schmerzensgeld.

Die Motive der Patienten: Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mitmenschen, Angstabbau, Anerkennung, Rückzug und Regression. Für manche ist es zusätzlich reizvoll, sich intellektuell mit Ärzten zu messen.

    Die Patienten kommen oft aus medizinischen Berufen.
   

Wenn eine Krankengeschichte ungewöhnlich ist oder sich ein Leiden nicht verifizieren läßt, sollten Ärzte die Krankenakten intensiv studieren und mit Kollegen Kontakt aufnehmen, die die Patienten vorher behandelt haben, rät Feldman. Überzufällig häufig tauchten bei den Patienten auch psychiatrische Diagnosen in der Vorgeschichte auf.

Hellhörig werden sollten Ärzte außerdem, wenn Patienten rasch fordern, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, wenn sie wiederholt Testergebnisse in Zweifel ziehen, die gegen die Krankheit sprechen, wenn sie Verschlechterungen exakt voraussagen, wenn sie häufig von Klinik zu Klinik und Arzt zu Arzt gewandert sind, wenn sie keinen Besuch in der Klinik bekommen, wenn sie sinnvolle Therapien boykottieren und natürlich, wenn sich Befunde als selbst induziert erweisen.

Patienten sollten die Chance haben, das Gesicht zu wahren

Wie aber sollten Ärzte mit den Patienten über ihren Verdacht sprechen? Feldman rät zu einem Gespräch, bei dem die Patienten ihr Gesicht wahren können und nicht gleich empört den Raum verlassen. Zum Beispiel können Ärzte sagen: "Wenn die nächste Therapie nicht hilft, müssen wir annehmen, daß Sie Ihre Krankheit selbst erzeugen."

Es gehe zunächst darum, die Selbstmanipulationen zu stoppen, so Feldman. Dann können Ärzte versuchen, die Patienten zu einem Psychiater zu überweisen, möglichst mit Erfahrung auf diesem Gebiet, eventuell auch zu einer Familientherapie. Wichtig sei, daß Ärzte die Patienten nicht als berechnende Simulanten sähen, sondern als bedürftige Menschen, denen die Kontrolle über ihr Verhalten längst entglitten ist.



STICHWORT

Artifizielle Störungen

Patienten mit artifiziellen Störungen sind keine Hypochonder. Hypochonder glauben tatsächlich, krank zu sein und wollen gesund werden. Patienten mit artifiziellen Störungen wollen das nicht. Sie wollen auf Dauer krank bleiben und sich so die Zuwendung ihrer Umgebung sichern.

Auch das Vortäuschen von Krankheiten oder Selbstverletzungen mit dem Motiv, eine Versicherung in Anspruch zu nehmen oder Wehrdienst oder Abschiebung zu entgehen, gehört nicht zu den artifiziellen Störungen. Zwar simulieren diese Personen ebenfalls, sie haben aber ein konkretes Ziel im Auge, wollen einen erkennbaren Vorteil erreichen und unterliegen nicht dem inneren Zwang, immer weiter zu machen. Menschen mit artifiziellen Störungen oder mit dem Münchhausen-Syndrom können dagegen ihr Verhalten nicht mehr richtig kontrollieren. (nsi)

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