HINTERGRUND

Hirnforscher lesen mit funktioneller MRT Gedanken

STUTTGART. Was passiert im Gehirn beim Denken? Diese Frage fasziniert nicht nur Neurowissenschaftler. Schon seit längerem können Hirnforscher dem Gehirn mit der funktionellen MRT beim Arbeiten zusehen: Sie beobachten, in welchen Bereichen Nervenzellen feuern und Aktivität zeigen.

Von Susanne Rytina Veröffentlicht:
So wird Lob im Gehirn sichtbar: In der fMRT leuchtet das Belohnungssystem auf.

So wird Lob im Gehirn sichtbar: In der fMRT leuchtet das Belohnungssystem auf.

© Foto: Prof. Büchel, UKE Hamburg

Inzwischen können die Forscher sogar schon einige Gedanken lesen - ganz ohne Scharlatanerie, sondern mit naturwissenschaftlichen Methoden. "Wenn man spezielle Gehirnmuster findet - einen Abdruck des Gedankens im Gehirn - weiß man, was eine Person denkt", sagte Professor John-Dylan Haynes vom Berliner Bernstein-Zentrum für rechnergestützte Neurowissenschaften (Computational Neurosciene) bei einer Tagung im evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof in Stuttgart.

Unter der Leitung des Bielefelder Hirnforschers Professor Hans J. Markowitsch und Pfarrer Helmut A. Müller diskutierten Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Das Thema: "Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?" Eine Frage, die zunehmend Moralphilosophen, Strafrechtler, Forensiker und Theologen herausfordert.

Entscheidungen werden durch Scans des Gehirns sichtbar

So zeigte Haynes in einem Experiment, wie und wo im Gehirn bestimmte Entscheidungen gefällt werden. Versuchspersonen sollten sich entscheiden, ob sie im Kopf etwas addieren oder subtrahieren - und dies für sich behalten. "Diese Entscheidung konnten wir mit 70-prozentiger Genauigkeit entschlüsseln", sagte Haynes. Zuvor hatte man den Computer mit den entsprechenden "Gehirnabdrücken" - eben den speziellen Mustern des Neuronenflackerns für Addieren und Subtrahieren - gefüttert und mit den Gedankenmustern der Probanden verglichen.

Art der Hirnaktivität lässt sich die Entscheidung vorhersagen

Eine zusätzliche Entdeckung: Bis zu zehn Sekunden, bevor eine Person die Entscheidung fällt, was sie per Tastendruck angezeigt hatte, flackerte das entsprechende Gedanken-Muster auf. Noch bevor die Person also weiß, wie sie sich entscheidet, zeigt die Maschine den Beschluss schon an. "Hier stellt sich die Frage, ob der freie Wille des Menschen haltbar ist", sagte Haynes. Dies ist zurzeit eine der umstrittensten Kontroverse in der Wissenschaft. Hat der Mensch einen freien Willen? Oder ist er durch neuronale Aktivitäten im Gehirn festgelegt? Kann er also nicht gegen seine Natur handeln?

Hirnforscher Markowitsch schilderte hierzu den Fall eines treu sorgenden Familienvaters, der plötzlich pädophil geworden war und sich an seinen Kindern vergriffen hatte. Nachdem man einen Tumor im Stirnhirn gefunden hatte - dort werden die Emotionen gesteuert - und ihn entfernte, verschwanden diese Neigungen wieder. Ist der Straftäter also schuldfähig oder nicht? "Wahrscheinlich werden Hirnscans irgendwann auch vor Gericht zugelassen", prognostizierte Markowitsch, der auch schon als Gutachter vor Gericht tätig war. In einem eigenen Experiment hat er sogar den "Abdruck der Lüge" im Gehirn nachgewiesen. Als Studenten aufgefordert wurden, eine wahre Geschichte zu erzählen, feuerten die Nervenzellen im Stirnhirn. Erzählten sie Lügen, gab es ein Neuronengewitter im hinteren Schädelbereich.

Auch Unternehmen studieren mittlerweile, wie das Gehirn von Bewerbern aussieht. "Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion, welche Technik erwünscht ist und welche nicht", forderte Markowitsch. Eine kritische Position übernahm Technikphilosoph Professor Thomas Zoglauer von der TU Cottbus. Die neuronale Tätigkeit sage nichts über die Gründe von Menschen aus. Auch Professor Hans-Ludwig Kröber, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie in Berlin, warnte davor, alle Entscheidungen auf eine rein physiologische Ebene zu reduzieren. Der Mensch sei mehr als seine neuronalen Aktivitäten im Gehirn. (dpa)

STICHWORT

Funktionelle MRT

Die funktionelle MRT (fMRT) ist eine Weiterentwicklung der klassischen MRT. Das Besondere an der fMRT: Es können Stoffwechselvorgänge sichtbar gemacht werden, die durch zelluläre Aktivitäten entstehen. Die aktivierten Strukturen lassen sich mit hoher räumlicher Auflösung darstellen. Besonders in den Neurowissenschaften wird die fMRT intensiv genutzt. So konnte in Versuchen etwa der Placeboeffekt abgebildet werden: Probanden, die ein Schein-Schmerzmittel einnahmen, zeigten Aktivitäten in den Hirnarealen, die die Endorphinausschüttung steuern, und sie empfanden auch weniger Schmerz. (eb)

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