"Lügen bedeutet nicht: schlechte Prognose"

Inwieweit können Gutachter den Straftätern glauben? Die schwierige Wahrheitssuche schildert der Psychiater Professor Norbert Leygraf.

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Ärzte Zeitung: Wenn Sie ein forensisch-psychiatrisches Gutachten machen müssen, stellt sich unter anderem die Frage, ob Sie dem, was ein Straftäter über sich sagt, Glauben schenken können. Lässt sich das überhaupt feststellen?

Professor Norbert Leygraf: Die Frage nach der Wahrheit, zum Beispiel über den Ablauf einer Straftat, hat natürlich das Gericht zu beurteilen, nicht der forensisch-psychiatrische Gutachter.

Für die Qualität eines Gutachtens über die Frage der Prognose ist es aber unerlässlich, dass der Gutachter die von den Ermittlungsbehörden und vom Gericht festgestellten Tatbestände kennt und natürlich auch über eventuelle psychiatrische Diagnosen informiert ist.

Der Gutachter muss die Akten genau gelesen haben, das ist die wichtigste Basis für ein gutes Gutachten. Wenn der Gesprächspartner in seinen Ausführungen von dem abweicht, was dokumentiert ist, hat es eine große Bedeutung, auf welche Weise er das tut. Eine Lüge kann sehr viel über eine Person aussagen, sie muss aber nicht unbedingt auch mit einer schlechten Prognose assoziiert sein.

Ärzte Zeitung: Können Sie ein Beispiel geben?

Leygraf: Ja. Da behauptet ein Straftäter, der seit zehn oder 15 Jahren im Gefängnis sitzt, er leide jeden Tag unter seiner Tat. Wenn ich das höre, gehe ich davon aus, dass er nicht die Wahrheit sagt, und zwar nicht nur in diesem Punkt, sondern auch auf anderen Gebieten. Natürlich schreibt sich jeder Mensch seine Geschichte über längere Zeit selbst. Für den psychiatrisch-forensischen Gutachter ist es wichtig zu beurteilen, wie authentisch sich eine Person verhält.

Ärzte Zeitung: Und lässt sich diese Frage beantworten?

Leygraf: Im Allgemeinen schon. Dazu gehören eine gute Ausbildung, viel Erfahrung und natürlich einige Tricks, die ich hier nicht im Einzelnen ausführen möchte. Aber man kommt auch an seine Grenzen. Zum Beispiel haben wir es bei Menschen, die religiös motivierte terroristische Anschläge planen, mit einem neuen Tätertyp zu tun.

Ich selbst hatte einmal einen jüngeren Mann aus diesem Täterkreis zu begutachten, der mir freundlich, aggressionsgehemmt und sozial gut integriert zu sein schien. Er berichtete zum Beispiel ausführlich über seine Aktivitäten in einer Fußballmannschaft. Das habe ich ihm erst einmal geglaubt. Im Nachhinein hat sich herausgestellt: Es war alles bis ins Letzte falsch. Man muss sich als forensischer Psychiater darauf einstellen, dass bei religiös motivierten Straftaten unter Umständen sehr differenziert und gesteuert falsche Aussagen gemacht werden.

Das Gespräch führte Nicola Siegmund-Schultze.

Zur Person

Professor Norbert Leygraf leitet das Institut für Forensische Psychiatrie der Uni Duisburg-Essen. Er ist Gutachter bei Strafverfahren und Haftentlassungen.

Lesen Sie dazu auch: Maßregelvollzug: dichtes Netz gegen Rezidive

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