Hintergrund

Depression als gewöhnliche Erkrankung begreifen

Seelische Störungen sind auf dem Vormarsch, jeder dritte Europäer hat ernste psychische Probleme. Dennoch werden Menschen mit solchen Erkrankungen noch immer stigmatisiert. Eine Depression sollte so angesehen werden wie Diabetes und Rheuma, fordern Experten. Eine bundesweite Aktionswoche, die heute startet, soll zu einem offenen Umgang mit psychischen Leiden führen.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Depressionen und andere seelischen Störungen machen Betroffenen und ihrem Umfeld immer noch Angst.

Depressionen und andere seelischen Störungen machen Betroffenen und ihrem Umfeld immer noch Angst.

© Maxim Malevich / fotolia.com

Der Selbstmord des depressionskranken Torhüters Robert Enke und das öffentliche Bekenntnis des Bundesliga-Trainers Ralf Rangnick zu seinem Burn-out haben die öffentliche Wahrnehmung neuropsychiatrischer Erkrankungen in den vergangenen zwei Jahren stark verändert.

Vielen Menschen wird bewusst, dass das wahre Ausmaß und die damit verbundenen Belastungen durch solche Erkrankungen in der Vergangenheit offenbar unterschätzt worden sind.

Die meisten Menschen wissen zudem wenig über das Spektrum psychischer Leiden. Hier setzt eine bundesweite Aktionswoche zur Aufklärung über seelische Gesundheitsstörungen unter www.aktionswoche.seelischegesundheit.net an, die am Montag  beginnt.

Europa: Jeder Dritte hat ernste psychische Probleme

Jeder dritte Europäer leidet nach einer aktuellen Studie an einer neuropsychiatrischen Störung. Dies entspricht etwa 164 Millionen Menschen in Europa, die im Laufe eines Jahres eine Erkrankung des Gehirns haben.

Angsterkrankungen sind dabei die häufigsten Leiden, wie die breit angelegte Analyse unter Leitung des Dresdner Psychologen Professor Hans-Ulrich Wittchen ergeben hat. Es folgen Depressionen, Demenzen, Alkoholerkrankungen und Schlaganfall.

Nach den Daten ist die gesellschaftliche Belastung, gemessen als die Zahl der Lebensjahre, die mit gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden, bei neuropsychiatrischen Erkrankungen weitaus größer als bei anderen Krankheiten (Europ Neuropsychopharmacol 2011; 21: 655).

Leidensdruck entscheidend für die Behandlung

Eine Zunahme der Zahl der Betroffenen in den vergangenen Jahrzehnten ist allerdings nicht belegt, sagt Professor Mathias Zink vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Nach Schätzungen bedürfe etwa jeder fünfte Mensch in Deutschland einmal im Leben eine Therapie gegen eine psychische Krankheit.

Entscheidend für die Behandlung eines Betroffenen ist der Leidensdruck, zum Beispiel, wenn wegen einer Depression der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann. Besonders Männer suchen bei psychischen Erkrankungen nur selten Hilfe.

"Mit Depressionen so selbstverständlich umgehen wie mit Diabetes und Rheuma"

Seelische Störungen machen Betroffenen und ihrem Umfeld immer noch Angst. Zink setzt sich deshalb vor allem für eine Entstigmatisierung der psychischen Leiden ein.

Die Krankheiten sollen so angesehen werden wie Diabetes oder Rheuma und nicht versteckt werden.

"Mit einer Depression kann man so selbstverständlich umgehen, wie mit einem Beinbruch oder mit Diabetes", sagt Zink dazu. Hausärzten empfiehlt er, sich in ihrer Umgebung mit den verfügbaren Hilfsangeboten gut zu vernetzen. So lässt sich dazu beitragen, dass Patienten früh und mit einer optimalen Aussicht auf Erfolg behandelt werden.

Screening-Fragebogen im Internet

Für die Früherkennung von Psychosen bei jungen Menschen bietet zum Beispiel das Zentralinstitut einen Screening-Fragebogen im Internet an. Ähnlich wie bei einer gestörten Glukosetoleranz als Diabetesvorstufe lasse sich der Ausbruch etwa einer schizophrenen Psychose bei Prodomen durch Screening in Risikogruppen von 15- bis 25-Jährigen und Frühtherapie verhindern.

Ergeben sich im Test Auffälligkeiten, dann wird eine ausführliche Diagnostik angeboten. "Meist kann den Betroffenen dann Entwarnung gegeben werden", sagt der Psychiater.

Erhärtet sich der Verdacht, dann ist eine erfolgreiche Prävention mit Psychotherapie und gegebenenfalls auch einer gering dosierten Prophylaxe mit Psychopharmaka möglich.

Anonyme Sprechstunden oder Informationen im Internet

Um den Patienten ihre Berührungsängste zu nehmen, setzen psychiatrische Kliniken und Einrichtungen heute auf niederschwellige Angebote: etwa anonyme Sprechstunden oder Informationen im Internet.

Hinzukommt eine intensive Öffentlichkeitsarbeit: zum Beispiel mit Tagen der offenen Tür in den Krankenhäusern oder dem Besuch von Schulklassen. An der aktuellen Aktionswoche zur seelischen Gesundheit beteiligen sich deshalb 35 Städte und Regionen in ganz Deutschland.

Zink: Schlechte Versorgung psychisch Kranker auf dem Land

Sorgen macht Zink die schlechte Versorgung psychisch Kranker auf dem Land. So stehen nach Angaben der Psychotherapeutenkammer in ländlichen Regionen nur 4,3 Psychotherapeuten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung im Vergleich zu 38,8 pro 100.000 in Großstädten.

In Ost-Mecklenburg müsse man deshalb 28 Wochen auf einen Termin warten.

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