Interview mit Stoffwechsel-Expertin

"Die Schäden sind irreversibel"

Bei eigenartigen Symptomkonstellationen und klinischen Mustern rät Professorin Julia B. Hennermann von der Universitätsmedizin Mainz: Fragen Sie auch mal den Stoffwechselspezialisten! Denn es könnte sich um eine lysosomale Speicherkrankheit handeln.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Kind mit Mukopolysaccharidose (MPS). Für einige MPS gibt es inzwischen eine Enzymersatztherapie.

Kind mit Mukopolysaccharidose (MPS). Für einige MPS gibt es inzwischen eine Enzymersatztherapie.

© Stefan Stark

Ärzte Zeitung: Frau Professor Hennermann, Sie und Ihr Team an der Villa Metabolica in Mainz beschäftigen sich intensiv mit lysosomalen Speicherkrankheiten. Was für Krankheiten sind das?

Professor Julia Hennermann: Lysosomale Speicherkrankheiten sind eine Gruppe angeborener Stoffwechselerkrankungen, von denen wir mittlerweile über 50 kennen. Deren Gesamtinzidenz liegt bei etwa 1:7000.

Professor Julia B. Hennermann

'Die Schäden sind irreversibel'

© Peter Pulkowski

Aktuelle Position: Ärztliche Leiterin des klinischen Schwerpunktbereichs Pädiatrische Stoffwechselerkrankungen (Villa Metabolica) am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz; Leitung des Stoffwechsellabors; Stellvertretende Sprecherin des Zentrums für Seltene Erkrankungen der Universitätsmedizin Mainz

Werdegang: Ausbildung zur Kinderärztin mit Spezialisierung auf angeborene Stoffwechselerkrankungen am Uniklinikum Frankfurt/Main und der Charité Berlin. Forschungsstipendium am Stoffwechsellabor der Universität Lyon/Frankreich. 2003- 2013 Leiterin der Pädiatrischen Stoffwechselmedizin der Universitätsmedizin Charité Berlin.

Schwerpunkte: Lysosomale Speichererkrankungen und Störungen im Intermediärstoffwechsel, die zu neurologischen Schädigungen führen können wie Nichtketotische Hyperglyzinämie und Phenylketonurie. Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Stoffwechselstörungen, der Arbeitsgemeinschaft für angeborene Stoffwechselstörungen in der Inneren Medizin, der Society for the Study of Inborn Errors of Metabolism, der European Study Group on Lysosomal Diseases, der Deutschen Gesellschaft für Neugeborenenscreening sowie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Patienten mit einer Lysosomalen Speicherkrankheit können bestimmte Stoffwechselprodukte in speziellen Zellorganellen, den Lysosomen, nicht abbauen, da die Aktivität bestimmter lysosomaler Enzyme vermindert ist. Dadurch werden diese Stoffwechselprodukte in den Zellen verschiedener Organe gespeichert, so dass diese in ihrer Struktur und Funktion geschädigt werden. Das kann, je nach Krankheit, zum Beispiel das Nervensystem betreffen, die Muskulatur, die Knochen, das Herz, die Nieren oder die Leber. Die Schäden sind irreversibel und progredient, weil die Speicherung der nicht abgebauten Stoffwechselprodukte voranschreitet.

Wie viele Menschen in Deutschland sind betroffen?

Hennermann: Gesicherte Zahlen gibt es leider nicht. Viele dieser Erkrankungen dürften unterdiagnostiziert sein. In Deutschland sind etwa 400 Patienten mit einem M. Gaucher bekannt. Die Anzahl an Erkrankten ist wahrscheinlich doppelt so hoch. Ähnlich ist die Situation beim M. Fabry: In Deutschland sind etwa 700 Erkrankte bekannt, die Inzidenz wird aber zwischen 1:40.000 und 1:120.000 angegeben.

Trotz der Seltenheit gibt es für einige lysosomale Speicherkrankheiten kausal ansetzende Therapieoptionen. Wie gut kann man diesen Patienten helfen?

Hennermann: Es gibt noch nicht für alle lysosomalen Speichererkrankungen kausale Therapieoptionen. Die wichtigste Therapie ist die Substitution des fehlenden oder unzureichend aktiven lysosomalen Enzyms. Bei M. Gaucher haben wir mit dieser Enzymersatztherapie bereits seit über 20 Jahren Erfahrung, bei M. Fabry seit 15 Jahren. Für einige Mukopolysaccharidosen (MPS) und für den M. Pompe gibt es inzwischen ebenfalls eine Enzymersatztherapie. Die Enzympräparate müssen ein- bis zweiwöchentlich intravenös appliziert werden, eine einzelne Infusion braucht vier bis fünf Stunden.

Wie wirken die Enzymersatztherapien und welche Probleme sind hierbei bekannt?

Hennermann: Die Enzyme können nur über einen komplexen Mechanismus, das heißt über Endozytose durch bestimmte Rezeptoren, in die Zellen und in die Lysosomen aufgenommen werden. Dort entfalten sie ihre spezifische Wirkung, das heißt, sie bauen das dort eingelagerte Speichermaterial ab. Allerdings gelangen die Enzyme auf diesem Weg nicht in alle Organsysteme hinein, sie können zum Beispiel nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden. In neuesten Studien wird deshalb versucht, die Enzymsubstitution intrathekal durchzuführen - das ist wichtig für Patienten mit einer neurodegenerativen Mitbeteiligung, etwa bei schwer verlaufender MPS I oder MPS II. Ein weiteres Problem ist, dass es sich bei den Enzymersatzpräparaten für den Körper um Fremdeiweiße handelt. Diese können Immunreaktionen auslösen.

Wie effektiv sind dann die Enzymersatztherapien?

Hennermann: Das ist je nach Erkrankung unterschiedlich und auch abhängig davon, wie weit vorangeschritten und wie schwer ausgeprägt die jeweilige Speicherkrankheit ist. Beim M. Gaucher sind zum Beispiel in erster Linie die Makrophagen von der Speicherung der Stoffwechselprodukte betroffen. Das bedingt eine vergleichsweise bessere Aufnahme des substituierten Enzyms und bedingt damit einen meist sehr guten Behandlungserfolg. Beim M. Pompe dagegen ist besonders die Skelettmuskulatur betroffen, diese ist nur schwer durch den Enzymersatz zu erreichen. Wir müssen daher sehr hohe Dosen davon applizieren, was sekundär zu immunologischen Reaktionen mit möglicher Antikörper-Produktion führt, die die Wirksamkeit der Enzymersatztherapie wiederum einschränken können.

Erst kürzlich haben Sie in der Villa Metabolica erstmals in Europa einen Patienten mit CholesterinesterSpeicherkrankheit mit einem neuen Medikament behandelt...

Hennermann: Es handelt sich dabei um einen Defekt der sauren Lipase, die für den Abbau von Triglyceriden und Cholesterinestern zuständig ist. Die Enzymdefizienz verursacht zum einen den M. Wolman, der unbehandelt innerhalb des ersten Lebensjahres zum Tode führt. Die leichtere Erkrankungsform ist die Cholesterinester-Speicherkrankheit. Im späten Kleinkindalter, manchmal auch erst im Erwachsenenalter, fällt eine Lebervergrößerung auf. Sonografisch sieht das wie eine Fettleber aus, und die Patienten haben eine Hyperlipidämie.

Die erst seit kurzem zugelassene Enzymersatztherapie zeigt sehr gute Erfolge: Die schwer betroffenen Kinder haben fast alle den 18. Lebensmonat erreicht, und es geht ihnen sehr gut. Im Allgemeinen geht bei der leichten Verlaufsform bereits nach kurzer Behandlungszeit die Hepatosplenomegalie zurück, und die Blutfettwerte normalisieren sich.

Kann diesen Patienten ein weitgehend normales Leben ermöglicht werden?

Hennermann: Das hoffen wir zumindest. Wichtig ist die frühe Diagnosestellung und Therapie.

Wie gelingt es denn, Patienten mit solch seltenen Krankheiten rechtzeitig zu identifizieren?

Hennermann: Bei eigenartigen Symptomkonstellationen und klinischen Mustern fordere ich dazu auf: Fragen Sie auch mal den Stoffwechselspezialisten! Entscheidend ist es, überhaupt auch an lysosomale Speicherkrankheiten zu denken! Das ist gerade vor dem Hintergrund vorhandener Therapiemöglichkeiten für einige dieser Patienten wichtig.

So werden manche Patienten mit MPS I, II und VI zunächst wegen eingeschränkter Gelenkbeweglichkeiten oder Kontrakturen beim Rheumatologen vorstellig. Bei Hepatosplenomegalie könnte man an M. Gaucher denken oder bei gleichzeitiger Hyperlipidämie an die Cholesterinester-Speicherkrankheit. Bei einigen Erkrankungen bestünde außerdem die Möglichkeit, diese in das Neugeborenenscreening zu integrieren. In Bezug auf MPS I und M. Pompe gibt es bereits Erfahrungen aus anderen Ländern mit erfolgreichen Pilotprojekten. In Deutschland sind wir allerdings noch nicht so weit.

Gibt es Risikogruppen, in denen man gezielt screent?

Hennermann: Wir wissen beispielsweise, dass Patienten mit M. Fabry früh eine Proteinurie aufweisen oder einen Schlaganfall erleiden können. Daher sind junge Patienten mit einer Proteinurie unklarer Genese oder einem Schlaganfall unklarer Genese in Studien gezielt auf M. Fabry gescreent worden.

Sich alle zwei Wochen für mehrere Stunden eine Infusion verabreichen zu lassen, bedeutet einen erheblichen Aufwand für die Patienten und die Familien. Gibt es denn Alternativen zum intravenösen Enzymersatz?

Hennermann: Ja, das wird zum Teil schon praktiziert und auch in Studien erprobt. Mit Chaperon-Therapien (Chaperon, franz.: Anstandsdame) wird zum Beispiel die Faltung des defizienten Enzyms verbessert und damit dessen lysosomale Aktivität. Eine weitere Möglichkeit ist die Substratreduktion. Im Gegensatz zu der Enzymersatztherapie, die ja dazu dient, die vermehrt gespeicherten Substrate abzubauen, wird hierbei die Bildung des sich ansammelnden lysosomalen Speichermaterials vermindert, Daraus lässt sich schon ersehen, dass unter Umständen auch Kombinationstherapien sinnvoll sein könnten.

Ein weiteres Therapieprinzip ist die Gabe von "Fusionsproteinen", das sind Enzyme, die mit einem Fusionsprotein, zum Beispiel einem Rezeptorantikörper, versehen sind. So gelingt es, dass das substituierte Enzym bestimmte Organsysteme besser erreichen kann, etwa das Gehirn oder den Skelettmuskel. Und es gibt Studien zu gentherapeutischen Behandlungen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Enzymersatztherapien sind auch kostspielig mit teils sechsstelligen Summen pro Jahr. Warum ist das so und wie gehen die Kostenträger damit um?

Hennermann: Die Entwicklung dieser Medikamente und die Herstellung der Enzympräparate sind kompliziert und aufwändig. Entweder werden sie rekombinant produziert oder aus spezifischen Zellkulturen gewonnen. Die Prüfverfahren dieser Produkte sind ebenfalls sehr komplex. Hinzu kommt, dass stets sehr wenige Patienten an diesen Krankheiten leiden, oft sind nur einige tausend weltweit bekannt. Das verteuert die Therapie für den Einzelnen. Die Kosten zugelassener Enzymersatz-Präparate werden zwar erstattet. Aber Kliniken, universitäre Zentren wie auch einzelne niedergelassene Ärzte, die sich engagieren, haben ein Abrechnungsproblem. Der zu betreibende Aufwand wird im Allgemeinen nicht vergütet, es sei denn, es gibt ausgehandelte Vereinbarungen.

Wir in Mainz rechnen die Behandlungen über die Hochschulambulanz ab und bekommen für die Behandlung pro Patient 54 Euro im Quartal. Das ist natürlich nicht kostendeckend für Patienten, die jede Woche vier bis fünf Stunden bei uns sind. Die adäquate Erstattung tagesstationärer Behandlungen wird von den Krankenkassen abgelehnt. Auch die bei einigen Patienten mögliche Heimtherapie wird nicht erstattet. Hinzu kommt, dass die Therapien oft individuell und außerhalb der Zulassung angepasst werden müssen. Eine beispielsweise bei manchen Patienten notwendige Verdopplung der Enzymdosis bei unzureichender Wirksamkeit wird von den Kassen nicht immer bezahlt. Dennoch versuchen wir stets, wohnortnahe Lösungen für die Applikation der Therapien für die Patienten zu finden.

Lysosomale Speicherkrankheiten sind immer Multiorgankrankheiten. Wie organisieren Sie die interdisziplinäre Versorgung der Patienten?

Hennermann: Ja, es ist wichtig, dass Patienten mit lysosomalen Speicherkrankheiten in Stoffwechselzentren betreut werden, die sich mit diesen komplexen Krankheitsbildern auskennen. Hier in Mainz verfügen wir über Jahrzehnte gewachsene Strukturen, in denen wir Stoffwechselspezialisten mit vielen anderen Fachdisziplinen eng zusammenarbeiten. Eine intensive Mitbetreuung der Patienten erfolgt in der Villa Metabolica durch Kolleginnen und Kollegen der Anästhesie, der Augenklinik, der HNO-Klinik, der Kardiologie, der Neurochirurgie, der Orthopädie, der Radiologie und andere.Wir haben mehrere interdisziplinäre Sprechstunden, wie beispielsweise eine gemeinsame Sprechstunde von uns Stoffwechselspezialisten zusammen mit den Kollegen der Orthopädie. Wir verfügen über ein Labor, das speziell die Untersuchungen auf lysosomale Speicherkrankheiten durchführen kann, seien es Enzymaktivitätsbestimmungen oder auch Screeninguntersuchungen im Urin. Hinzu kommen molekulargenetische Untersuchungen zur Bestätigung der Verdachtsdiagnosen.

Veranstaltungstipp: Vom 14. bis 17. Juli veranstaltet die Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen e. V. das "14th International Symposium on MPS and Related Diseases" in Bonn. Anmeldung und ausführliche Infos: www.mps2016.com

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