Online-Therapie

Sind Computer bald die besseren Psychotherapeuten?

Immer mehr Online-Psychotherapien drängen auf den Markt. Die meisten sind weder besonders einfühlsam noch allzu intelligent. Dennoch sind die Erfolge erstaunlich. Was erst, wenn künstliche Intelligenz ins Spiel kommt?

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Online-Psychotherapien drängen auf den Markt: Konkurrenz für den menschlichen Therapeut?

Online-Psychotherapien drängen auf den Markt: Konkurrenz für den menschlichen Therapeut?

© Anna Velichkovsky / Fotolia

NEU ISENBURG Der Autor Frank Schätzing hat ein Gespür für Visionen, die nahe an der Realität liegen. In seinem Roman "Limit" beschreibt er eine schwer depressive Frau auf einer Mondmission, wie sie versucht, einen Zusammenbruch mithilfe eines virtuellen Psychotherapeuten abzuwenden.

Obwohl sie weiß, dass ihr Therapeut keine Person, sondern eine künstliche Intelligenz ist, also ein selbstlernendes Psychotherapieprogramm, spricht sie mit ihm, als wäre es ein Mensch. Und das Programm reagiert wie ein Mensch – analysiert Gesprächsinhalte und Tonlage, misst Puls und Stimmung, macht Verhaltensvorschläge.

Der Astronautin bleibt nur der virtuelle Therapeut, schließlich ist die Psychotherapeutendichte auf dem Mond im Jahr 2025, in dem die Geschichte spielt, noch immer äußerst gering.

Man mag über so viel Fantasie amüsiert schmunzeln, doch wird es kaum noch acht Jahre dauern, bis diese Vision real ist.

Das hat einerseits damit zu tun, dass die Dichte von Psychotherapeuten in vielen ländlichen Regionen durchaus auf Mondniveau liegt und es einen großen Bedarf für Alternativen gibt, nderseits erleben wir gerade einen gewaltigen Schub bei der Entwicklung und Akzeptanz künstlicher Intelligenzen.

Schon heute werden für diverse psychische Leiden therapieunterstützende oder -überbrückende Onlinemodule angeboten. Sie können auch als niedrigschwellige Angebot fungieren – manche Patienten kommen damit vielleicht klar und brauchen anschließend keinen Psychotherapeuten mehr.

Bei einigen ist im Hintergrund noch ein menschlicher Therapeut, andere arbeiten vollautomatisch. Solche Programme sind derzeit zwar alles andere als intelligent – sie reagieren auf die Eingaben der Patienten nach vorprogrammierten Mustern –, dennoch sind sie erstaunlich wirksam.

Sie stellen anhand der Angaben ein individuelles Therapieprogramm zusammen. Außerdem bemerken sie, wenn die Betroffenen aus dem Runder laufen und dringend einen Arzt oder Psychotherapeuten benötigen.

Psychotherapie nur noch, wenn der Computer versagt?

In einer soeben publizierten Studie ließen sich mit einem solchen Programm – einer kognitiven Verhaltenstherapie gegen Insomnie – ähnlich gute Therapieeffekte erzielen wie in anderen Studien mit menschlichen Therapeuten. Und das sollte zu denken geben.

Zwar handelte es sich hier nicht um eine direkte Vergleichsstudie zwischen Therapeut und Computer, solche wird es aber sicher bald geben. Was, wenn der menschliche Therapeut dann nicht signifikant besser abschneidet? Spätestens hier wird es brenzlig. Versicherungen könnten auf die Idee kommen, eine klassische Psychotherapie nur noch zu bezahlen, wenn der Computer scheitert.

Die immer noch recht "dummen" Psychotherapie-Programme dürften aber erst der Anfang einer rasanten Entwicklung sein. In vielen Bereichen halten künstliche Intelligenzen (KI) Einzug, und dabei geht es nicht nur um selbstlenkende Autos.

Wie alltagstauglich solche Entwicklungen bereits sind, demonstrieren gerade die beiden IT-Konzerne Google und Amazon mit ihren Heim-Assistenten "Echo" und "Google Home": Ein Lautsprecher erkennt Sprachbefehle und verarbeitet diese über eine KI im Hintergrund. Der Assistent kann per Zuruf ein Taxi übers Web bestellen, die nächste Zugverbindung ansagen, beim Kochen Rezepte vorlesen, eine Einkaufsliste zusammenstellen oder das Smart-Home steuern.

Die Assistenten lernen stetig bei der Spracherkennung dazu, passen sich an die Gewohnheiten an und können mit der Zeit rudimentäre Unterhaltungen führen. Vielleicht wird in wenigen Jahren fast jeder einen solchen Begleiter haben. Wer täglich mit einem Computer spricht, hat dann vielleicht auch kein Problem, wenn sein Therapeut eine KI ist. Von hier ist es folglich nur noch ein kleiner Schritt bis zur virtuellen Psychotherapie wie in Schätzings Roman.

Ergänzung statt Konkurrenz

Psychotherapeuten aus Fleisch und Blut müssen sich deswegen jedoch wenig sorgen, für sie dürften noch genügend Menschen übrig bleiben, denen auch die beste KI nicht helfen kann oder die weiterhin eine Therapie von Angesicht zu Angesicht wünschen. Setzen sich digitale Therapeuten als niederschwelliges Angebot durch, wäre das vielleicht sogar ein Segen – Psychotherapeuten könnten sich dann auf die Patienten konzentrieren, die eine Behandlung am dringendsten benötigen.

Der virtuelle Therapeut wäre zudem auch eine Option für Patienten, die ihre Seele nicht gerne vor anderen entblättern. Er könnte also die Hemmschwelle für eine solche Behandlung senken und Menschen erreichen, die dieser Therapie eher skeptisch gegenüberstehen. Natürlich ist dafür eine gewisse Affinität für digitale Medien nötig, aber der Anteil in der Bevölkerung, der damit ein grundsätzliches Problem hat, sinkt stetig.

Eine Chance wäre der virtuelle Therapeut auch für alle, die aus beruflichen Gründen kaum Zeit für eine Therapiesitzung unter der Woche haben oder die bildlich gesprochen hinterm Mond leben und weite Wege in Kauf nehmen müssen, um einen Therapeuten zu sehen: Sie könnten Zeit und Ort der Behandlung selbst bestimmen. Zudem helfen digitale Therapeuten, Wartezeiten zu überbrücken. Je besser die KI ist, umso weniger wird ein echter Therapeut nachher nötig sein. All das könnte die Situation in der psychotherapeutischen Versorgung entspannen.

Die entscheidende Frage ist jedoch, was solche Programme heute und künftig tatsächlich leisten. Bei Schätzing konnte der virtuelle Therapeut das sich anbahnende Desaster jedenfalls nicht verhindern: Irgendwann ging trotzdem alles schief, was nur schiefgehen konnte.

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