INTERVIEW

Die "zum Skandal hochgeschriebene" Studie hat für die Praxis keine Konsequenzen

Antidepressiva sind in die Kritik geraten. Nach Daten einer neuen Meta-Analyse wirken sie nur bei schwer Depressiven deutlich besser als Placebo. Der Psychiater Professor Hans-Jürgen Möller sieht jedoch keinen Grund, von der bisherigen Therapiepraxis abzuweichen. Die Daten der Analyse würden überbewertet und hätten für den Praxisalltag wenig Bedeutung, erläutert er im Gespräch mit Thomas Müller von der "Ärzte Zeitung".

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"Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist im Bereich dessen, was internistische Arzneien leisten." Zur Person Professor Hans-Jürgen Möller ist Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied zahlreicher psychiatrischer Fachgesellschaften.

Ärzte Zeitung: Der britische Psychologe Irving Kirsch kommt in seiner Meta-Analyse zu dem Schluss, dass nur schwer Depressive von modernen Antidepressiva profitieren. Können Ärzte also bei leicht und mittelschwer Erkrankten getrost auf die Arzneien verzichten?

Professor Hans-Jürgen Möller: Natürlich nicht. Ich würde auch Patienten mit leichter Depression raten, ein Antidepressivum zu nehmen, denn aus einer leichten Depression kann sich eine schwere entwickeln. Zudem ist die Antidepressiva-Therapie State-of-the-Art, wobei es Differenzierungen gibt. Einige Leitlinien empfehlen diese Arzneien nur für mittelschwere und schwere Depressionen - etwa die britischen Behörde NICE. Andere sagen, dass bei der leichten Depression zunächst einmal eine Psychotherapie indiziert sein kann.

Ärzte Zeitung: Patienten informieren sich aber selten über Therapieleitlinien. Stattdessen lesen sie jetzt fast überall in Zeitungen, dass Antidepressiva nicht wirken.

Möller: Für mich als Arzt ist die Arbeit von Kirsch ein absolutes Ärgernis. Sie zeigt, wie leicht Meta-Analysen missbräuchlich interpretiert werden, und wie sie dann in der Presse zu einem Skandal hochgeschrieben werden. Dabei bringt die Meta-Analyse überhaupt nichts Neues. Kirsch hat schon vor einigen Jahren eine ähnliche Arbeit publiziert, mit etwa den gleichen Kennwerten. Jede Zulassungsbehörde kennt diese Werte. Entscheidend ist doch, dass Antidepressiva von Behörden zugelassen sind, die ihre Wirksamkeit sehr wohl kennen und auch wissen, in welchem Verhältnis diese zur Verträglichkeit steht.

Ärzte Zeitung: Gerade darauf zielt ja die Kritik: Dass Behörden Arzneien zulassen, die nach Daten dieser Meta-Analyse nur einen geringen Nutzen haben.

Möller: Meta-Analysen sagen wenig über die Realität aus. Wenn man sämtliche Studien zusammenführt, gute und schlechte, dann bekommt man natürlich ein großes statistisches Rauschen, dann wird der Abstand zwischen Verum und Placebo reduziert. Jeder Arzt mit klinischer Erfahrung weiß aber, wie groß die Wirksamkeit der Antidepressiva bei vielen Patienten ist.

Ärzte Zeitung: Weshalb machen sich dann diese Effekte in den einzelnen Studien nicht deutlicher bemerkbar?

Möller: Ein Grund ist etwa, dass es immer viele Patienten gibt, die sehr gut, und solche, die sehr schlecht ansprechen. Ich kann also nur im Einzelfall sagen, dass das Antidepressivum gut wirkt. Und Aussagen über den Einzelfall kriegt man viel besser, wenn man Responder-Analysen macht, also schaut, wie viele der Patienten auf die Therapie ansprechen. Da bekommt man eine Differenz von etwa 20 Prozentpunkten zwischen Verum und Placebo. Das entspricht einer Number-Needed-to-Treat von 5 und damit einer mittelstarken bis starken Wirksamkeit. Das ist im Bereich dessen, was internistische Arzneien leisten.

Ärzte Zeitung: Erstaunlich ist aber trotzdem der hohe Placebo-Effekt in Depressionsstudien.

Möller: In klinischen Studien wird die Arznei nicht nur gegen Placebo geprüft. Die Patienten erhalten ja teilweise auch supportiver Psychotherapie und klinisches Management.

Ärzte Zeitung: Die gute Betreuung trägt also zum hohen Placebo-Effekt bei?

Möller: Ja, genau. Durch solche Aspekte wird der Placebo-Effekt in Studien erhöht. Das darf man nicht so naiv interpretieren, wie das Kirsch und Kollegen tun.

Ärzte Zeitung: Das hieße ja, im Alltag, in dem die Patienten nicht so intensiv betreut werden wie in Studien, wäre auch der Placebo-Effekt nicht so hoch. Dann ist die Placebo-Verum-Differenz bei leicht und mittelschwer Depressiven vielleicht ähnlich hoch wie bei schwer Depressiven?

Möller. Genau. Die Studiensituation ist eine unnatürliche Situation. Sie sagt wenig über den Alltag aus. Wenn ich an unsere Fünf-Minuten-Medizin denke, dann gibt es dort wenig unterstützende, verstehende und empathische Betreuung. Da rückt ein Medikament ins Zentrum, und das hat dann auch viel deutlichere Effekte.

Ärzte Zeitung: Professor Ulrich Hegerl vom Kompetenznetz Depressionen vermutet, dass nach den negativen Schlagzeilen die Suizidrate steigt, weil viele Patienten jetzt ihre Antidepressiva absetzen.

Möller: Ich habe über die Presseberichte inzwischen mit vielen Patienten gesprochen. Gott sei Dank sind viele vernünftig und lassen sich davon nicht beeinflussen. Die Ängstlichen sind jedoch verunsichert. In der Tat machen solche negativen Berichte Jahre von Awarenes-Kampagnen kaputt. Das kann sich durchaus auf die Suizidraten auswirken. So hat die Diskussion um mögliche Suizid-induzierende Wirkungen von Antidepressiva bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwa in den USA dazu geführt, dass dort plötzlich weniger Antidepressiva verordnet wurden - zugleich ist die Suizidrate gestiegen.

Ärzte Zeitung: Was würden Sie Ärzten mit verunsicherten Patienten raten?

Möller: Weiter zu machen wie bisher und die Medienberichte nicht weiter ernst zu nehmen. Die Meta-Analyse von Kirsch bringt überhaupt nichts Neues. Die Daten sind den Zulassungsbehörden bekannt. Die Antidepressiva, um dies hier geht, sind auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit geprüft, und es ist State-of-the-Art, depressive Patienten mit modernen Antidepressiva zu behandeln.

Zur Person

Professor Hans-Jürgen Möller ist Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied zahlreicher psychiatrischer Fachgesellschaften.

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