Bei Depressionen

Psychotherapie bringt weniger als gedacht

Psychotherapie gegen Depressionen ist deutlich weniger effektiv als es Studiendaten vermuten lassen - offenbar deshalb, weil negative Ergebnisse gern mal unter den Tisch gekehrt werden.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Psychotherapie bei Depressionen ist einer aktuellen Untersuchung zufolge wohl weniger effektiv als gedacht.

Psychotherapie bei Depressionen ist einer aktuellen Untersuchung zufolge wohl weniger effektiv als gedacht.

© alexsokolov / iStock / Thinkstock

AMSTERDAM. Der Publikations-Bias ist nach wie vor ein großes Problem in der evidenzbasierten Medizin. Wenn vorwiegend positive Studienergebnisse veröffentlicht und negative unter den Tisch gekehrt werden, erhält man zwangsläufig ein falsches Bild von der Wirksamkeit einer Behandlung.

Dieser Vorwurf richtete sich in der Vergangenheit vor allem an die Hersteller von Antidepressiva. Doch glaubt man einer Analyse von Psychologen der Universität in Amsterdam, sind davon auch Psychotherapie-Studien betroffen (PLoS ONE 2015; 10(9):e0137864).

"Die Wirksamkeit von psychologischen Interventionen gegen Depressionen ist in der veröffentlichten Literatur überschätzt worden - ganz ähnlich, wie das auch bei der Pharmakotherapie der Fall war", folgern die Forscher um Dr. Ellen Driessen. "Beide Verfahren sind zwar wirksam, aber nicht in dem Maße, wie es die vorhandene Literatur nahelegt."

Ein Viertel der Studien wird nicht veröffentlicht

Um dem Publikations-Bias auf die Spur zu kommen, hat sich das Team um Driessen auf Studien konzentriert, die vom National Institute of Health (NIH) der USA finanziell gefördert wurden.

Das NIH hat sämtliche der unterstützten Psychotherapie-Projekte seit 1972 gut dokumentiert. Driessen und Mitarbeiter konnten also feststellen, wie viele der vom NIH unterstützten Studien tatsächlich publiziert wurden. Insgesamt fanden sie 55 randomisiert-kontrollierte Studien zur Psychotherapie bei Depressionen.

Für 13 dieser Studien (knapp 24 Prozent) ließen sich jedoch keine Publikationen finden. Driessen und Mitarbeite traten nun mit den Leitern der unveröffentlichten Studien in Kontakt und baten sie um die Studiendaten.

Elf der Studienleiter lieferten die Ergebnisse, einer weigerte sich und einer hatte die Daten bereits vernichtet. Letzterer gab aber an, dass es sich um eine kleine Studie mit höchstens einem Dutzend Patienten gehandelt habe, in der nur "vernachlässigbare Unterschiede" zwischen den Therapiearmen aufgetreten seien.

In den 55 aufgespürten NIH-Studien wurden Psychotherapien gegen ein unspezifisches klinisches Management, andere psychologische Interventionen, Placebopillen oder Antidepressiva geprüft. Insgesamt hatten daran 5420 Patienten teilgenommen.

Für 20 der publizierten Studien, in denen eine Psychotherapie gegen eine beliebige andere Therapieform geprüft wurde, stellten die niederländischen Forscher eine mittlere Effektstärke (Hedges g) von 0,52 fest.

Die sechs nicht publizierten Studien deuteten mit einer Effektstärke von 0,20 allenfalls auf eine geringe Wirksamkeit der Psychotherapie. Zusammen ergaben die publizierten und nicht publizierten Studien eine Effektstärke von 0,39. Diese war damit um ein Viertel geringer als in den publizierten Studien.

Am geringsten war der Publikations-Bias in den sieben Studien ohne Therapie in der Kontrollgruppe. Hier ergab sich eine Effektstärke von 1,01 in den publizierten und 0,77 in den unveröffentlichten Studien - zusammengenommen lag die Effektstärke bei 0,97 - der Bias lag somit nur bei 4 Prozent.

Helfen Antidepressiva sogar besser?

In sechs Studien wurde eine Psychotherapie gegen eine Placebopille verglichen. Die fünf publizierten Studien ergaben eine Effektstärke von 0,34, die eine nicht publizierte von -0,09. Zusammen führte dies nur noch zur klinisch wenig relevanten Effektstärke von 0,19 zugunsten der Psychotherapie.

Nur noch einen vernachlässigbaren Effekt zeigte die Psychotherapie auch dann, wenn sie sich mit anderen psychologischen Interventionen messen musste.

Zwei unpublizierte und zwölf veröffentlichte Studien produzierten nur noch eine Effektstärke von 0,13. Auch hier war die Wirksamkeit um ein Viertel geringer, wenn die unveröffentlichten Ergebnisse berücksichtigt wurden.

Ein ähnliches Bild ergab sich für den Vergleich der Psychotherapie mit einer Antidepressiva-Behandlung. In drei unveröffentlichten Studien waren die Medikamente wirksamer als die Psychotherapie, in den fünf publizierten Studien war es genau umgekehrt, zusammengenommen ließ sich überhaupt kein Unterschied mehr feststellen.

Die Forscher um Driessen schauten sich auch die Qualität der Studien genauer an. Würden etwa gerade die qualitativ hochwertigen Studien nicht veröffentlicht, müsste das Urteil zur Psychotherapie noch schlechter ausfallen.

Keine gute Studienqualität

In der Tat war die Studienqualität nicht überragend - weniger als ein Fünftel hatte ein geringes Fehlerrisiko, allerdings betraf dies die publizierten wie nicht publizierten gleichermaßen.

Einzelne Qualitätskriterien wie die Randomisierung durch unabhängige Dritte waren bei den unveröffentlichten Studien jedoch etwas häufiger anzutreffen.

Insgesamt, so Driessen und Mitarbeiter, scheint der Publikations-Bias bei Psychotherapiestudien ähnlich hoch zu sein wie bei solchen mit Antidepressiva.

So hatte eine Analyse von Daten der US-Zulassungsbehörde FDA ergeben, dass auch bei der Depressionstherapie mit Medikamenten die Wirksamkeit um etwa ein Viertel überschätzt wird.

Wurde dies berücksichtigt, lagen die Antidepressiva mit einer Effektstärke von 0,31 auf einem ähnlichen Niveau wie die Psychotherapien in Driessens Untersuchung (0,39).

Mehr zum Thema

Nach elektivem Kaiserschnitt

Esketamin verringert offenbar postpartale Depressionen

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ergänzung herkömmlicher Modelle

Kalziumscore verbessert Vorhersage stenotischer Koronarien

Lesetipps
Der papierene Organspendeausweis soll bald der Vergangenheit angehören. Denn noch im März geht das Online-Organspende-Register an den Start.

© Alexander Raths / Stock.adobe.com

Online-Organspende-Register startet

Wie Kollegen die Organspende-Beratung in den Praxisalltag integrieren