Frauen mit MS entdecken neues Lebensgefühl

In Potsdam haben Frauen mit schwieriger Diagnose eine Tanzgruppe gegründet. Sie gehen vor der Premiere für ein neues Projekt an Grenzen, sind fasziniert von Bewegung, entdecken sich beim Tanz neu.

Von Jörg Schurig Veröffentlicht:
Tanzpädagogin Anne Gieske (mitte) arbeitet mit Multiple-Sklerose- Erkrankten an einer Choreographie.

Tanzpädagogin Anne Gieske (mitte) arbeitet mit Multiple-Sklerose- Erkrankten an einer Choreographie.

© Settnik / dpa

POTSDAM. Immer wieder aufstehen. Die Bewegung wird zum Maß aller Dinge. Vor allem für Menschen, die ein Handicap tragen und sich nicht mehr so bewegen können wie andere. Bei denen schon eine Drehung des Körpers oder eine Kniebeuge Schmerzen auslösen.

Es gibt unterschiedliche Arten von Bewegungslosigkeit, auch eine des Geistes. Und es gibt Menschen, die nur noch eingeschränkt beweglich sind, aber mit ihren Gedanken, Gefühlen und Sehnsüchten eine ganze Welt bewegen.

"Das Leben ist zu kurz, um es zu vergeuden", sagt die 51 Jahre alte Sybille Gutsch. Die frühere Lehrerin aus Potsdam leidet an einer heimtückischen Krankheit: Multiple Sklerose.

Rund 133.000 Menschen in Deutschland leiden an MS. Wer MS hat, kann im Rollstuhl landen - Schicksal von knapp fünf Prozent der Betroffenen. MS ist die Krankheit mit den 1000 Gesichtern.

Eine Welt ohne Barrieren

Bei der Potsdamer Tanzgruppe "Pangea.unique dance" stehen sieben Gesichter hinter dieser Krankheit. Das Ensemble entstand 2009 und hat sich nach dem Urkontinent Pangea benannt.

Bis vor etwa 150 Millionen Jahren hingen die Landmassen noch zusammen, kein Meer trennte das heutige Europa von Amerika oder Afrika von Australien. Für die Pangea-Frauen hat das eine symbolische Bedeutung. Der Urkontinent stellt eine Welt ohne Grenzen dar, ohne Barrieren, Ungerechtigkeit und Geringschätzung.

Jetzt, kurz vor der Premiere ihres neuen Projektes, kommt zu den Beschwerden ein neues Symptom hinzu: Lampenfieber.

Die Frauen habe ihr Programm "133 000 + 7 Gesichter" genannt. Nicht alle Frauen sind an diesem Tag bei jeder Probe dabei.

Wenn ein Schub kommt, muss das Ensemble Ausfälle verkraften. Heute sind fünf Frauen gekommen. Sybille Gutsch ist nur eingeschränkt bewegungsfähig, hat eine Flexüle im Arm.

Die Aufführung lebt von Präzision

"Ich bin im Moment im akuten Schub, vollgepumpt mit Kortison", sagt die Frau und lächelt. Es gehe ihr gut, weil sie das Medikament "Full Speed" habe durchlaufen lassen. Gutsch wollte unbedingt pünktlich zur Probe da sein. Denn das Stück, das Tänzerin Anne Gieseke mit den Frauen einstudiert, funktioniert wie ein Uhrwerk an Bewegungen und lebt von Präzision.

Vier Stühle stehen in einer Reihe, zwei gegenüber. Aufstehen, setzen, seitliche Körperdrehung. Die Hände greifen in die Luft, dann sind die Körper in einer lässigen Sitzhaltung völlig entspannt. Zu Beginn, bei der "Trockenübung" ohne Musik, wirken die Bewegungen roboterhaft.

Doch als beim zweiten Durchgang elektronische Klänge die Abläufe untermalen, fließen die Bewegungen anders, bekommt die Choreografie Fluss. Die Frauen müssen ihr inneres Metronom anstupsen, jeder Takt zählt für den richtigen Einsatz.

Das ist leichter gesagt als getan. Vor allem dann, wenn der Kopf nicht ganz frei ist, Schmerzen oder die Angst vor Schmerzen die Abläufe behindern. "Hetz‘ mich nicht", ruft Henrike Vogel ihren Mittänzerinnen zu. Der Spruch ist zum Teil der Inszenierung geworden.

Ursprünglich hatte Vogel ihn tatsächlich so gemeint, als sie bei einer Probe irgendwann nicht mehr hinterherkam. "Wir kommen immer mal wieder an diesem Punkt", sagt Gieseke. Wenn etwas nicht gehe, werde es einfach geändert. "Tanz gibt so viele Möglichkeiten der Bewegung."

Die richtigen Muskeln bewegen

Anfangs hatte Anne Gieseke, die an der Palucca Schule in Dresden Tanzpädagogik studierte und später im niederländischen Arnhem noch ein Studium für Choreografie und Bühnentanz absolvierte, durchaus Berührungsängste. Sie wusste nicht, welche Belastungen für MS-Kranke möglich sind und ob ihnen das alles auch gut tut.

Inzwischen weiß sie, dass sie mit den Pangea-Frauen umgehen kann wie mit anderen Schülern auch. "Ich arbeite nicht therapeutisch mit den Frauen, sondern künstlerisch. Das ist unser Anspruch."

Ganz nebenbei wirkt das Tanztraining für die meisten auch körperlich wohltuend. "Wenn sie die Muskeln bewegen, sollen sie zumindest die richtigen bewegen", meint Gieseke. Die Arbeit mit Pangea empfindet sie als zutiefst befriedigend.

"Eine solche Dankbarkeit gibt es ja anderswo gar nicht mehr. Die Frauen vertrauen mir. Ich kann viel geben und bekomme ganz viel zurück", beschreibt die 27-Jährige eine gute Erfahrung ihres noch jungen Berufslebens. Dass bei den Proben viel gelacht wird, ist ein schöner Nebeneffekt.

"Bewegung, und sei es noch die kleinste, ist Leben. Uns vereint die Leidenschaft zum Tanz. Wir lernen durch Tanz unseren Körper neu kennen. Diese Körperlichkeit bringt uns das Gefühl der Weiblichkeit, der Leidenschaft zurück", beschreibt Gutsch das neue Lebensgefühl.

"Was der Tanz in uns bewirkt, sind Emotionen; aufgestaute Ängste können wir raus lassen. Es klingt verrückt, aber ohne MS hätte ich diese wunderbaren Frauen nie kennengelernt, und auch die Sicht auf das Leben hat sich verändert."

"Wir wollen uns nicht verstecken!"

Sybille Gutsch und die anderen sind dankbar dafür, dass Gieseke mit ihrer Arbeit den Betroffenen eine neue Welt eröffnet hat.

"Wir stärken Ausdauer und Kognition. Wir trauen uns mehr zu, sind offener im Umgang mit unserer Erkrankung geworden, selbstbewusster. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir haben die Freude und das Lachen neu entdeckt."

Übereinstimmend berichten die Frauen, dass der Tanz Beschwerden gemildert oder wenigstens stabilisiert hat. Manche haben sich erst jetzt einen Kindheitstraum erfüllt - den vom Tanzen."

Am 19. und 20. Mai will Pangea die "133 000 + 7" Gesichter im gläsernen Pavillon auf der Freundschaftsinsel in Potsdam aufführen. Dort können auch Leute von draußen zuschauen, die bisher den direkten Kontakt scheuen. (dpa)

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