Trotz Armprothese - Patient fühlt Druck und Temperatur

Herkömmliche myoelektrische Armprothesen sind bestenfalls einfache Hilfsmittel im Vergleich zu dem, was Techniker jetzt ersonnen haben. Für einen jungen Mann aus Österreich ist sein Prothesen-Prototyp inzwischen Teil des Körpers geworden. Die Steuerung der neuartigen Armprothese erfolgt intuitiv. Druck, Temperatur und Vibration sind für den Patienten fühlbar.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Phantommapping: Die Sensorik der fehlenden Hand wurde durch eine Operation auf die Schulter projiziert.

Phantommapping: Die Sensorik der fehlenden Hand wurde durch eine Operation auf die Schulter projiziert.

© Foto: Otto Bock

Etwas mehr als vier Jahre ist es her, da verbrannten dem damals 17-jährigen Christian Kandlbauer aus der Steiermark wegen eines Dummejungenstreiches auf einem Starkstrommast beide Arme. Rechts musste transhumeral amputiert werden, und der linke Arm musste exartikuliert werden. Heute arbeitet der junge Mann als Lagerist und hat kürzlich sogar seinen Führerschein gemacht. Zu verdanken hat er das unter anderem dem Medizintechnikhersteller Otto Bock, dem er sich als Proband für eine gedankengesteuerte Armprothese zur Verfügung gestellt hat.

Patient mit gedankengesteuerter Armprothese: Am Zeigefinger befindet sich ein Fühler, mit dem Empfindungseindrücke zur Schulter übertragen werden. Durch einen chirurgischen Eingriff war die Sensorik der Hand auf die linke Schulter übertragen worden.

Patient mit gedankengesteuerter Armprothese: Am Zeigefinger befindet sich ein Fühler, mit dem Empfindungseindrücke zur Schulter übertragen werden. Durch einen chirurgischen Eingriff war die Sensorik der Hand auf die linke Schulter übertragen worden.

© Foto: Otto Bock

Um die entscheidenden Fortschritte mit diesem Cyber-Arm würdigen zu können, muss man zunächst verstehen, wie konventionelle myoelektrische Armprothesen funktionieren. Dafür werden zwei Myoelektroden über dem M. biceps und dem M. triceps genutzt. Reste dieser Muskeln sind im Allgemeinen vorhanden, weil Arme meistens transhumeral abgesetzt werden können. Abgeleitet werden ein Beugersignal und ein Strecksignal. Mit diesen zwei Signalen müssen der Ellenbogen gestreckt oder gebeugt, die Prothesenhand supiniert oder proniert sowie geschlossen und geöffnet werden. Mit einem Schalter steuert der Patient Ellenbogen, Handgelenk und Hand an, muss also zwischen diesen drei Ebenen hin und her schalten, bevor die gewünschte Einzelbewegung ausgeführt werden kann.

Umgang mit herkömmlichen Prothesen ist kompliziert

Bedient wird der Schalter elektronisch durch die gleichzeitige Kontraktion von Biceps und Triceps. Mit jeder Kokontraktion wird also eine Ebene weiter geschaltet. Der Patient muss stets wissen, in welcher Steuerungsebene er sich gerade befindet. "Diese Methode ist nicht intuitiv", sagt Dr. Hubert Egger, Projektleiter für die gedankengesteuerte Armprothese beim Unternehmen Otto Bock. Der Anwender müsse sich stark konzentrieren. An harmonische Bewegungsabläufe oder auch nur annähernd natürliche Bewegungsmuster ist also nicht zu denken.

In der neuen Armprothese, die Kandlbauer an der linken, exartikulierten Schulter angepasst worden ist, gibt es einen solchen Schalter nicht. Ein eingebauter Minicomputer analysiert die einlaufenden komplexen Signalmuster, erkennt daraus die Bewegungsabsicht des Patienten und setzt sie um. Bevor dies allerdings funktioniert hat, waren für Kandlbauer chirurgische Nerventransfers erforderlich sowie jede Menge Training.

Der junge Patient in einem eigens für ihn umgebauten Pkw. Er hat vor Kurzem problemlos seinen Führerschein gemacht. Rechts trägt der junge Mann eine konventionelle myoelektrische Armprothese und auf der linken Seite die gedankengesteuerte Prothese.

Der junge Patient in einem eigens für ihn umgebauten Pkw. Er hat vor Kurzem problemlos seinen Führerschein gemacht. Rechts trägt der junge Mann eine konventionelle myoelektrische Armprothese und auf der linken Seite die gedankengesteuerte Prothese.

© Foto: Otto Bock

Die Idee: Einzelne Bewegungsebenen werden mit Originalsignalen des Gehirns angesteuert, die in der Prothese den natürlichen Bewegungsablauf auslösen. Der Gedanke "Ich nehme das Glas" soll also im Idealfall zu allen notwendigen Bewegungsanteilen in der Prothese führen. Dazu haben Professor Oskar Aszmann und seine Kollegen von der Abteilung für plastische und rekonstruktive Chirurgie an der Medizinischen Universität Wien die für Arm und Hand zuständigen Nervenreste aus dem proximalen Armnervengeflecht herausgelöst und an versorgende Nervenäste vorzugsweise der Brustmuskulatur "umgesteckt".

Der N. musculocutaneus und der N. medianus innervieren bei Kandlbauer jetzt die oberen Anteile des M. pectoralis major, der N. ulnaris den unteren Teil des M. pectoralis major und des M. pectoralis minor. Den N. radialis hat Aszmann auf den N. thoracodorsalis umgelegt, der den M. latissimus dorsi innerviert. Denkt also Kandlbauer heute zum Beispiel "Ellenbogen beugen", kontrahiert die Pars clavicularis des M. pectoralis major, bei "Faust schließen", der M. pectoralis minor.

Diese Muskeln haben aus technischer Sicht Verstärkerfunktion für das Signal, das nun per Elektrode abgenommen und an die Armprothese weiter geleitet wird. Die stattfindende Muskelkontraktion ist für die Funktion der Prothese unwichtig.

Die Prothese "hört" damit jedoch die Signale des Gehirns, die über die originalen armversorgenden Nerven an sie gesendet werden. Jetzt muss nur noch die künstliche Intelligenz der Prothese lernen zu verstehen, was das menschliche Gehirn von ihm will. Dazu war ein Prothesentraining nötig, damit der Kunstarm interpretieren kann, welches Impulsmuster "Faust schließen" bedeutet und welches "Ellenbogen beugen". Und Kandlbauer musste in einem komplexen Rehabilitationsprogramm lernen, immer gleiche Impulsmuster zu generieren. Mit der Zeit sei für die Bewegungen immer weniger Konzentration vonnöten, sagt Egger und vergleicht dies mit dem Autofahren: Anfangs muss man noch nachdenken, welches Pedal zu treten und in welchen Gang zu schalten ist, später verläuft das automatisiert.

Der Patient erhält auch ein sensorisches Feedback

Doch damit nicht genug: Bei den Nerventransfers haben die österreichischen Chirurgen zugleich dafür gesorgt, dass die übliche Sensorik der Hand sich nun auf die Schulter projiziert, sich für den Patienten aber zum Beispiel wie eine echte Handberührung anfühlt. Die neueste Version des Cyber-Arms enthält Sensoren am Prothesenzeigefinger, die Informationen wie "heiß/kalt", "rau/glatt" sowie Druckempfindungen mit Hilfe sogenannter Aktuatoren auf diese sensorischen Areale an der Schulter übertragen können. Kandlbauer erhält nun also auch ein sensorisches Feedback, was für ihn vor allem in Bezug auf die Dosierung der Griffkraft von Vorteil ist.

Inzwischen, so Egger, habe die neuartige Prothese bereits die Marktreife erlangt. Stundenlanges Verkabeln ist nicht mehr nötig. Die Elektroden sind in den Schaft der Prothese integriert. Kandlbauer kann beide Armprothesen ohne Hilfe innerhalb von etwa zwei Minuten anlegen. "Er schlüpft morgens in die Prothesen wie in ein Sakko", sagt Egger. Er kann sich selbst sein Frühstück zubereiten. Danach setzt sich Kandlbauer in sein eigens umgebautes Auto und fährt zur Arbeit.

Und so funktioniert die gedankengesteuerte Armprothese

Im Zeigefinger der Arm-/Handprothese haben Techniker des Unternehmens Otto Bock Sensoren untergebracht, die Druck, Temperatur und Vibration erkennen und über ein elektronisches Regelsystem weiterleiten können. Der Österreicher Christian Kandlbauer, der beide Arme bei einem Stromunfall verloren hat, kann diese Qualitäten an seiner virtuellen Hand wahrnehmen. Dazu haben Professor Oskar Aszmann vom AKH Wien und seine Kollegen die Nervi supraclaviculares, die die Schulterregion sensibel versorgen, proximal durchtrennt und an die Nervenwurzel C6 angelagert.

Diese Nervenwurzel ist verantwortlich für die Dermatome am Daumen, am Zeigefinger und der Handfläche. Somit wurde, nach abgeschlossenem Nervenwachstum, eine sensible Verbindung zwischen Schulter und jenen Gehirnregionen geschaffen, die diese Handareale präsentieren. Bereits nach sechs Monaten hatte Kandlbauer seinen Daumen, Zeigefinger und die Handfläche bei Berührung der Schulter gespürt.

Im Frühjahr vergangenen Jahres ist die Sensorik genau analysiert und vermessen worden. Mit einem elektrothermischen Wandler (Peltier-Element) an der Schulter kann er bei entsprechendem Signal aus dem Prothesenfinger daher "warm" oder "kalt" wahrnehmen, über ein Stempelelement Druck und über einen Beschleunigungssensor Vibrationen. Für den Alltag am Wichtigsten ist ein Feedback über die Griffkraft (Drucksensorik) und die Vibrationssensorik, mit der zum Beispiel Relativbewegungen zwischen Hand und Objektoberfläche registriert werden können. (ner)

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