Cannabis

Weicht die Hoffnung bald der Ernüchterung?

Die analgetische Potenz der Cannabispräparate werde häufig überschätzt, sagt die Leiterin der Abteilung Medizin und Versorgungsforschung der Barmer. Und: Nebenwirkungen würden unterschätzt.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Die Verordnung von Cannabisprodukten auf Rezept ist per Gesetz vereinfacht worden.

Die Verordnung von Cannabisprodukten auf Rezept ist per Gesetz vereinfacht worden.

© Africa Studio / stock.adobe.com

KÖLN. Die Barmer will genau beobachten, wie sich die Verordnung von Cannabisblüten und -extrakten entwickeln wird. Dazu wird die Krankenkasse Daten aus ihrem Wissenschafts-Data-Warehouse für Zwecke der Versorgungsforschung auswerten, sagt die Leiterin der Abteilung Medizin und Versorgungsforschung der Barmer Dr. Ursula Marschall. Sie rechnet damit, dass im kommenden Jahr die ersten Ergebnisse vorliegen werden.

Die Anästhesistin und Schmerztherapeutin hat während ihrer 15-jährigen klinischen Tätigkeit unter anderem eine Schmerzambulanz geleitet und selbst Erfahrungen mit der Verordnung von Cannabis gesammelt. Marschall erwartet, dass der aktuelle "Hype" rund um die neuen Verordnungsmöglichkeiten bei der Cannabis-Therapie nicht lange anhalten und sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten schon bald der Ernüchterung weichen wird. "Die Erwartung: mit Cannabis wird jetzt alles gut, entspricht nicht der Versorgungsrealität", sagt sie der "Ärzte Zeitung".

Keine Kostenexplosion erwartet

Nach ihrer Einschätzung wird von den Patienten die analgetische Potenz der Cannabispräparate häufig überschätzt, die Nebenwirkungen werden dagegen unterschätzt. "Viele werden enttäuscht sein."

Die Mehrzahl der Patienten, bei denen die Cannabis-Therapie Sinn macht, bekomme die Verordnung heute schon, sagt Marschall. Dazu gehören etwa Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Zwar werden eine Reihe von Ärzten die neuen Therapiemöglichkeiten nach dem "Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften" ausprobieren – nicht zuletzt, weil Patienten sie einfordern. "Ich erwarte aber nicht, dass es einen deutlichen Anstieg bei den Patienten geben wird, die Cannabis dauerhaft einnehmen." Deshalb geht sie auch nicht davon aus, dass die neuen gesetzlichen Regelungen zu einer Kostenexplosion bei den Krankenkassen führen werden.

Ein Problem sei, dass es bislang zu wenig Daten darüber gibt, in welchen Fällen die Präparate helfen und in welchen nicht. Hier kann die wissenschaftliche Begleitforschung zu den Verordnungen nach den neuen gesetzlichen Regelungen für Abhilfe sorgen, hofft Marschall. Jeder Arzt, der die Cannabis-Blüten oder -Extrakte verordnet, muss in den kommenden fünf Jahren dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu jedem Patienten anonymisierte Daten übermitteln. Dazu gehören Alter und Geschlecht, Diagnose, Dauer der Erkrankung und Symptomatik, frühere Behandlungen, Dosierung, Therapiedauer, Begleittherapien, Wirksamkeit, Nebenwirkung und Entwicklung der Lebensqualität.

"Wenn der Arzt oder der Patient der Datenübermittlung nicht zustimmen, erfolgt keine Kostenübernahme durch die Krankenkassen", betont sie. Bei der bislang nach Ausnahmeregelungen möglichen Verordnung von Cannabis-Präparaten – die es auch weiterhin gibt – ist die Datenweitergabe dagegen nicht notwendig.

Bislang zu wenig Evidenz

Nach der bisherigen Erfahrung der Barmer greifen Ärzte aus allen Fachgruppen in Einzelfällen auf die Cannabis-Therapie zurück, mit einem Schwerpunkt bei Hausärzten und Schmerztherapeuten. Marschall erwartet, dass sich viele Ärzte jetzt intensiver mit den Behandlungsmöglichkeiten auseinandersetzen und gezielt Informationen suchen werden. Genau das ist aber schwierig, weil die Datenlage so schlecht ist.

"Es gibt bislang wenig Evidenz." Aus diesem Grund benennt das Gesetz auch keine einzige Indikation für den Einsatz, betont Marschall. "Wir brauchen wesentlich mehr Daten." Mit den Auswertungen ihres Data-Warehouses hofft die Barmer, die Lücke zumindest ein bisschen zu schließen.

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