Roboterhand made in Germany

Exoskelett lässt Gelähmte sich wieder bewegen

Um Schwerst-Querschnittsgelähmten den Alltag zu erleichtern, arbeiten deutsche Forscher an einer Roboterhand, die sie mit Augenbewegungen und Hirnströmen steuern. Diese können im Experiment wieder selbstständig essen und trinken. Erst der Anfang?

Von Lena Müssigmann Veröffentlicht:
Das hirngesteuerte Hand-Exoskelett der Tübinger Forscher ermöglicht es Gelähmten, ihre Hand wieder zu benutzen.

Das hirngesteuerte Hand-Exoskelett der Tübinger Forscher ermöglicht es Gelähmten, ihre Hand wieder zu benutzen.

© Surjo R. Soekadar

TÜBINGEN. Wissenschaftler der Universität Tübingen haben eine hirngesteuerte Roboterhand für schwerstquerschnittsgelähmte Menschen entwickelt. Das sogenannte Hand-Exoskelett wurde von sechs Betroffenen bereits testweise im Alltag angewendet, wie die Universität Tübingen mitteilt.

"Sie waren zum Beispiel in der Lage, selbstständig in einem Restaurant zu essen und zu trinken", berichten die Forscher um Sujo R. Soekadar der die Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie an der Universität Tübingen leitet.

40 Prozent der Querschnittsgelähmten können seinen Angaben zufolge noch Schulter und Ellbogen bewegen – für sie sei der Handroboter gedacht. Die Roboterhand wird an gelähmten Gliedmaßen befestigt und über Augenbewegungen und Hirnströme gesteuert, die durch Elektroden an der Kopfhaut abgegriffen werden.

Das Tübinger Team hat für die Entwicklung mit dem "The BioRobotics Institute" aus dem italienischen Sant'Anna und dem spanischen "Institut Guttmann" in Badalona zusammengearbeitet. Die Studie wird in der ersten Ausgabe des Fachmagazins "Science Robotics" vorgestellt (2016; 1: eaag3296).

Keine Op nötig

Anders als bei invasiven Systemen, bei denen Mikroelektroden ins Gehirn implantiert werden, wird Patienten hier eine Operation erspart, berichtet die Universität Tübingen in einer Mitteilung. Neuartige Polyamid-Elektroden leiten die Hirnströme direkt an der Kopfoberfläche ab und werden mit einem Kontrollmechanismus kombiniert. So konnten die Studienteilnehmer das Hand-Exoskelett mehrere Stunden zuverlässig steuern.

Das System könne ohne großen Aufwand im Alltag eingesetzt werden: Die tragbaren kabellosen Systemkomponenten sind in den Rollstuhl der Querschnittsgelähmten integriert und werden über einen kleinen Tablet-Computer gesteuert.

"Dieser neue Ansatz wird die Lebensqualität Querschnittsgelähmter und Schlaganfall-Überlebender in naher Zukunft deutlich verbessern", betont Soekadar in der Mitteilung.

Andere hirngesteuerte Hilfsmittel haben bereits amerikanische Forscher vorgelegt. Neu am System der Tübinger Forscher ist nach Soekedars Angaben, dass der Nutzer durch Berücksichtigung der Augenbewegung "ein Veto" einlegen kann – so lange er auf seine Hand schaue, öffne sie ihren Griff nicht, egal, was im Gehirn geschehe. Dadurch passiere es Nutzern seltener, dass sie etwas fallen ließen. Die Steuerung sei sicherer als die vergleichbarer Systeme.

Kann das Exoskelett die Bewegungsfähigkeit wiederherstellen?

Neben dem unmittelbaren Nutzen im Alltag kann das hirngesteuerte Hand-Exoskelett bei regelmäßiger Anwendung auch den Erholungsprozess nach Rückenmarksverletzungen oder Schlaganfällen unterstützen, so die Mitteilung weiter. Dies könne helfen, die Bewegungsfähigkeit einer gelähmten Hand wiederherzustellen.

Mit solchen neuroplastischen Effekten ließen sich auch die Behandlungsoptionen für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Depressionen oder kognitive Störungen wirkungsvoll erweitern. Um solche Effekte nachzuweisen, sind jedoch weitere, groß angelegte klinische Studien erforderlich.

Es gibt allerdings auch Skepsis: Der Experte Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg beschäftigt sich mit demselben Thema. Er gibt zu bedenken, dass die Augensteuerung auch zu Fehlern führe und die Hand dann ungewollt geöffnet wird.

Alltagstauglichkeit wohlmöglich noch in weiter Ferne

Außerdem zweifelt der Experte die Aussage an, das System sei bereits alltagstauglich. "Dreieinhalb Stunden mit dem System auf die Straße und ins Café zu gehen, nachdem es Wissenschaftler eingerichtet haben, ist noch keine Alltagsanwendung", sagte er. Dafür ist das System über längere Zeit ohne Hilfe von Wissenschaftlern zu tragen.

Und hierfür müssten die Tübinger Forscher noch einen weiten Weg zurücklegen. (dpa/eb)

Interdisziplinäre Forschung

Die AG Angewandte Neurotechnologie an der Universität Tübingen ist eine gemeinsame Einrichtung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie des Magnetoenzephalographie Zentrums (MEG) an der Medizinischen Fakultät.

Aufgaben: Im Mittelpunkt steht der klinische Einsatz von Gehirn-Maschine-Schnittstellen (brain-machine interfaces, BMIs) und deren Kombination mit nicht-invasiven Hirnstimulationsverfahren.

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