Gilt noch die Forderung nach strikter Stoffwechselkontrolle?

Eine gute Einstellung von Anfang an, später eine gewisse Zurückhaltung bei den Zielwerten. Aktuelle Studien legen das nahe. Professor Hellmut Mehnert erläutert die Zusammenhänge.

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Ärzte Zeitung: Was versteht man heute generell unter einer guten Diabeteseinstellung?

Professor Hellmut Mehnert: Die neuen Empfehlungen in Form der Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft haben zurecht betont, dass eine gute, weitgehend normnahe Diabeteseinstellung für beide Diabetesformen weiterhin gültig ist. So wird bei Typ-2-Diabetikern sofort eine HbA1c-Grenze von 6,5 bis 7 Prozent angestrebt und Typ-1-Diabetiker sollen, wie die DCCT-Studie gezeigt hat, - unbedingt von vornherein eine gute Stoffwechseleinstellung haben.

Ärzte Zeitung: In letzter Zeit haben Berichte den Eindruck erweckt, dass eine scharfe Diabeteseinstellung negative Konsequenzen habe. Was steckt dahinter?

Mehnert: In letzter Zeit haben mehrere Studien (ACCORD, ADVANCE, VADT) erkennen lassen, dass bei bestimmten Typ-2-Diabetikern eine gute Diabeteseinstellung sich nicht förderlich auf die Makroangiopathie, sondern am ehesten noch (ADVANCE-Studie) auf die Mikroangiopathie (Nephropathie) günstig auswirkt. Vor allem die ACCORD-Studie gibt zu denken, da hier die scharf - wie wir meinen zu scharf - eingestellten Diabetiker mit einem HbA1c-Wert unter 6,0 Prozent als Zielwert mehr Komplikationen hatten als die weniger scharf eingestellten Patienten. Das hat verschiedentlich zu der irrigen Aussage geführt, dass eine strikte Diabeteskontrolle bei Typ-2-Diabetikern nicht sinnvoll ist.

Ärzte Zeitung: Wie ist zu erklären, dass sich in der UKPDS- und in der Steno-2-Studie ergeben hat, dass sich eine gute Diabeteseinstellung auch bei Typ-2-Diabetikern lohnt?

Mehnert: Zu erklären ist es wohl am ehesten mit den Unterschieden bei den Patienten und den therapeutischen Bedingungen. In der so kritischen ACCORD-Studie wurden Typ-2-Diabetiker mit größtenteils schon bestehenden kardiovaskulären Komplikationen so scharf eingestellt, dass sie nicht nur deutlich an Gewicht zugenommen haben, sondern dass auch vermehrt schwere Hypoglykämien aufgetreten sind. Sie haben vermutlich zu den nachteiligen Ergebnissen einer zu strikten Stoffwechselkontrolle geführt. Zweifellos sollten aufgrund dieser Ergebnisse und der auch schon vorher bestehenden ärztlichen Erfahrungen alte Typ-2-Diabetiker mit Langzeitdiabetes und entsprechenden Komplikationen nicht so scharf eingestellt werden, wie es die Leitlinien für frisch erkannte Typ-2-Diabetiker vorschlagen. Ein HbA1c-Wert um 8 Prozent muss in solchen Fällen ausreichen, um einen gewissen Schutz gegen die offenbar so verderblichen Hypoglykämien zu bieten. Die gute Diabeteseinstellung zu Beginn der Erkrankung ist aber besonders wichtig, wie sich in der Nachfolgestudie der UKPDS für Typ-2-Diabetiker gezeigt hat: Hier traten bei der "intensiv" behandelten Prüfgruppe trotz später angenäherter Werte an die Kontrollgruppe nach 20 Jahren deutlich weniger Komplikationen bei den ursprünglich schon schärfer eingestellten Diabetikern auf. Dies galt vor allem auch für die bis dahin nicht signifikante Besserung der Makroangiopathie. So ist auch zu erklären, dass die Fachgesellschaften jetzt sogar nach der Typ-2-Diagnose Metformin fordern.

Professor Hellmut Mehnert

Diabetologie, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten - diesen Themen widmet sich Professor Hellmut Mehnert seit über 50 Jahren. 1967 hat Mehnert die weltweit größte Diabetes-Früherfassungsaktion gemacht. Er hat auch das erste und größte Schulungszentrum für Diabetiker in Deutschland ins Leben gerufen. Mehnert ist Träger der Paracelsus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft.

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