Medizin-Nobelpreis

Wie Zellen ihren Müll wiederverwerten

Für grundlegende Arbeiten zum Recycling zellulärer Bestandteile erhält Professor Yoshinori Ohsumi aus Tokio den Medizinnobelpreis 2016. Die Arbeiten eröffnen neue Therapieansätze - auch gegen Krebs.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Der diesjährige Nobelpreis geht in das Land der aufgehenden Sonne.

Der diesjährige Nobelpreis geht in das Land der aufgehenden Sonne.

© Karolinska-Institut

Wer die Nobelpreisverleihungen in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wird sich fragen: Eine Auszeichnung für Entdeckungen zum Recycling in der Zelle – gab es das nicht schon einmal? Tatsächlich bekamen vor zwölf Jahren Aaron Ciechanover, Avram Hershko und Irwin Rose den Nobelpreis für Chemie dafür, dass sie das Proteasom-System zum Abbau fehlgestalteter Proteine entschlüsselt hatten.

Ihre Entdeckungen haben es ermöglicht, Hemmstoffe gegen Proteasomen von Krebszellen zu entwickeln, die längst Einzug in die Onkologie gefunden haben. Den Anfang machte Bortezomib zur Myelomtherapie.Mit dem aktuellen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin werden erneut Arbeiten zum zellulären Recycling gewürdigt.

Dem 71-Jährigen japanischen Zellbiologen Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology ist es gelungen, die Vorgänge der komplexen Autophagie zu entschlüsseln. Diese kann nicht nur Proteine, sondern sogar ganze Organellen wie Mitochondrien wiederverwerten, um das Zellmaterial als Energiequelle zu nutzen.

Doppelmembrangebilde unter dem Mikroskop

Anfangs war Ohsumi zur Erforschung der Autophagie nur mit einem Mikroskop bewaffnet. Für seine grundlegenden Arbeiten nutzte er die Backhefe Saccharomyces cerevisiae. Zunächst war er sich nicht sicher, ob Autophagie – ein Begriff, den der belgische Medizinnobelpreisträger von 1974 und Lysosom-Entdecker Christian de Duve bereits vor 50 Jahren geprägt hat – in diesen Zellen überhaupt vorkommt.

Vor fast 25 Jahren gelang es Ohsumi schließlich – nach Nährstoffmangel als Schlüsselreiz –, die massive Ansammlung von Autophagosomen in den Zellen unter dem Mikroskop sichtbar zu machen. Es handelt sich um Doppelmembrangebilde, die die zum Abbau bestimmten Zellstrukturen umschließen und zu den Lysosomen transportieren, in denen dann das Recycling erfolgt.

Autophagosomen bestehen nur wenige Minuten

Organellen der menschlichen Zelle. Hierzu gehören auch die früher wenig beachteten Autophagosomen.

Organellen der menschlichen Zelle. Hierzu gehören auch die früher wenig beachteten Autophagosomen.

© Henrie / fotolia.com

Die Schwierigkeit, Autophagosomen zu untersuchen, beruht auch darauf, dass sie nicht lange existieren. Bereits nach 15 bis 20 Minuten sind sie mit den Lysosomen verschmolzen. Schließlich publizierte Ohsumi 1993 nach Untersuchung Tausender Hefekulturen die ersten 15 Gene, die für den geordneten Ablauf der Autophagie unerlässlich sind.

Mit seinen Kollegen erkannte er, dass auch in menschlichen Zellen diese Form des Recyclings existiert. De Duve hatte bereits nachgewiesen, dass Gukagon Autophagie in der Leber induziert. Sie wird durch Nahrungszufuhr gestoppt und durch Fasten wieder angestoßen. 30 bis 40 Prozent der Proteine in der Leber sind nach 48 Stunden Fasten abgebaut. Nach Angaben von Ohsumi werden binnen ein bis zwei Monaten alle Proteine im Körper fast komplett ausgetauscht (Cell Research 2014; 24: 9).

Autophagie ist der einzige, auch für die Embryogenese und Zelldifferenzierung unerlässliche zelluläre Prozess, durch den komplette Organellen wie Mitochondrien, Peroxisomen und das endoplasmatische Retikulum abgebaut werden. Darüber hinaus hat sich inzwischen herausgestellt, dass Autophagie auch eine wichtige Strategie im Kampf der Zellen gegen Infektionen ist. Streptokokken zum Beispiel werden nach Eindringen in Zellen durch Endozytose von Autophagosomen umschlossen und den Lysosomen zur Vernichtung zugeführt.

Ähnlichkeiten mit Salmonellen, Unterschiede bei  bei Listerien und Shigellen

Ähnliches ist von Salmonellen bekannt. Anders läuft das jedoch bei Listerien und Shigellen ab, die es schaffen, diesem Abbau erfolgreich zu entgehen. Die Erkenntnisse zur Autophagie haben auch das Interesse von Onkologen geweckt. In Tumoren ist Autophagie übermäßig aktiv, was ihnen das gesteigerte Wachstum ermöglicht.

Ein Beispiel für ein in der Karzinogenese relevantes Protein ist Beclin-1, das etwa bei Brustkrebs und Ovarialkarzinomen mutiert ist. Sein Nachweis deutet auf eine schlechte Prognose. Für den Beginn einer geordnet ablaufenden Autophagie ist es eine wichtige Komponente. Es wird bereits als Maß für die Autophagieaktivität in Studien genutzt, etwa zur Wirksamkeit von Hydrochloroquin beim Prostatakarzinom.

Andere Substanzen, die die Autophagie beeinflussen und von denen man sich ein therapeutisches Potenzial auch bei anderen Krankheiten erhofft, sind Chloroquin beim kleinzelligen Lungenkarzinom (Stadium IV) und beim duktalen Carcinoma in situ, Carbamazepin bei der Alpha-1-Antitrypsin-defizienten Leberzirrhose sowie Lithiumcarbonat bei amyotropher Lateralsklerose und Trehalose gegen die Gefäßalterung (Cell Research 2014; 24: 69).

Schlüssel-Element der Neurodegeneration

Eingeschränkt ist die Autophagie – mit gleichzeitiger Ansammlung defekter Proteine – schließlich bei neurologischen Erkrankungen unter anderem bei Patienten mit Epilepsie, Bewegungsstörungen, neurodegenerativen Veränderungen und Gehirnfehlbildungen. Bei Morbus Parkinson ist das Parkin-Gen, das die Mitophagie – also den Abbau von defekten Mitochondrien – induziert, mutiert, was etwa mit der autosomal-rezessiven Form der Erkrankung assoziiert ist.

Ohsumi habe sich mit Autophagie einem Forschungsthema gewidmet, "das andere Wissenschaftler links liegen gelassen haben", so Professor Juleen Zierath vom Medizinnobelpreiskomitee kurz nach der Bekanntgabe des Preisträgers am Karolinska-Institut in Stockholm. Und noch heute erforsche er die Autophagie – trotz seiner Emeritierung.

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