Interview

"Politiker nutzen den Idealismus der Heilberufe aus"

Darin sind sie sich einig: Die Pflegereform bleibt hinter den Erwartungen zurück. BÄK-Vorstand Dr. Max Kaplan und der Präsident des Deutschen Pflegerates Andreas Westerfellhaus kritisieren im Interview, dass die Politik den Idealismus der Heilberufe ausnutzt.

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Synergien zwischen den Berufsgruppen nutzen ist das Ziel. BÄK-Vize Dr. Max Kaplan (links) und der Präsident des Deutschen Pflegerates Andreas Westerfellhaus.

Synergien zwischen den Berufsgruppen nutzen ist das Ziel. BÄK-Vize Dr. Max Kaplan (links) und der Präsident des Deutschen Pflegerates Andreas Westerfellhaus.

© vdb

Ärzte Zeitung: Der Referentenentwurf des Pflegereformgesetzes liegt vor. Ist das der große Wurf, auf den wir gewartet haben?

Dr. Max Kaplan: Finanziell nachhaltig ist der Entwurf wahrscheinlich nicht. Den Beitragssatz um 0,1 Prozentpunkte anzuheben bringt 1,1 Milliarden Euro im Jahr. Das wird nur vier weitere Jahre reichen.

Den Pflegebedürftigkeitsbegriff neu zu definieren und die Demenzkranken einzubeziehen hält die Ärzteschaft für absolut sinnvoll. Hier entsteht ein immenser Bedarf, dem man gerecht werden muss.

Und wenn man auf der anderen Seite sieht, dass alle Fachberufe des Gesundheitswesens, also nicht nur die Ärzte, sondern auch die Pflegekräfte, die Physiotherapeuten, die Logopäden und andere knapp werden, dann heißt das, dass wir Angehörige von Gesundheitsberufen kooperieren müssen.

Andreas Westerfellhaus: Es gibt gute Ansätze, keine Frage, aber wenn man den Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht neu formuliert, fährt man die Pflege vor die Wand. Die Gespräche darüber sollen im Februar überhaupt erst beginnen.

Es wird wohl nichts mehr mit der Neuregelung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes in dieser Legislaturperiode. Die im Raum stehenden Summen sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Unter 3,5 bis fünf Milliarden Euro im Jahr ist da nichts zu machen, wenn man es ernsthaft angeht.

Mehr Geld brauchen wir übrigens bereits heute, nicht erst ab 2013. Was der Pflegeseite als Berufsgruppe weiter aufgestoßen ist, ist, dass zur Fachkräftesituation und Arbeitssituation nichts gesagt wird. Wer soll denn die zusätzliche Arbeit machen?

Ärzte Zeitung: Geht die Koalition nicht den zweiten Schritt vor dem ersten. Voraussetzung für eine solide Reform ist doch die Neudefinition der Pflegebedürftigkeit, oder?

Dr. Max Kaplan

Aktuelle Position: Präsident der Landesärztekammer Bayern; Vizepräsident Bundesärztekammer

Werdegang/Ausbildung: 59 Jahre alt; Medizinstudium in München; seit 1985 Landarzt im Unterallgäu; 15 Jahre Notarzt; zeitweise leitender Notarzt; zahlreiche Funktionen in ärztlichen Standesorganisationen

Kaplan: In der Gesellschaft des längeren Lebens, wie wir sie heute und künftig haben, geht es darum, menschenwürdig alt werden zu können. Was mich ärgert, ist, dass man die Berufsgruppen dafür in Vorleistung treten lässt.

Es haben sich Pflegenetze gebildet, die sich an Runden Tischen Gedanken machen, wie sie Patienten versorgen, wenn sie aus dem Krankenhaus nach Hause oder in ein Heim kommen. Damit zum Beispiel Demenzkranke nicht nur unversorgt in der Ecke sitzen.

Da gibt es heute schon tolle Modelle. Aber die werden nicht finanziert. Das ist reiner Idealismus, sowohl bei den Ärzten als auch bei den Pflegekräften.

Andreas Westerfellhaus

Aktuelle Position: Präsident des Deutschen Pflegerates (DPR)

Werdegang/Ausbildung: 55 Jahre; Ausbildung zum Fachkrankenpfleger; Pfleger auf Intensivstation; Pädagogik- und Betriebswirtschaftsstudium; Geschäftsführer der Zentralen Akademie für Berufe im Gesundheitswesen (ZAB) in Gütersloh

Westerfellhaus: Ich habe in den letzten Tagen mit Vertretern großer ambulanter Pflegedienste sprechen können, die seit mehr als 30 Jahren am Markt sind. Deren Leiter haben mir unabhängig voneinander gesagt, dass sie erstmals in der Situation sind, Patienten und Angehörigen sagen zu müssen: Wir können nicht mehr. Wir müssen Sie ablehnen. Wir haben kein Personal.

Das stößt auf Unverständnis bei den Menschen, die zu Recht darauf vertraut haben, dass sie Pflegeleistungen bekommen, wenn sie sie benötigen. Gleichzeitig werden die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöht. So verliert Politik an Vertrauen.

Ärzte Zeitung: Geraten wir in eine Priorisierungsdebatte auch in der Pflege?

Kaplan: Absolut. Wir haben so langsam das Gefühl, man baut auf den Idealismus der Berufsgruppen, und nutzt ihn aus, so lange es nur eben geht. Das wird negativ zurückschlagen auf die Versorgung unserer Pflegebedürftigen.

Westerfellhaus: Zeit für Selbstkritik. Aus dem falsch verstandenen Berufsethos heraus haben wir natürlich immer mehr geleistet. Und damit das Signal gesendet: Es geht ja noch.

Ärzte Zeitung: Welche Erwartungen an eine nachhaltige Finanzierung der Pflegereform haben Ärzte und Pflegekräfte denn?

Westerfellhaus: Meine persönliche Meinung ist, dass eine freiwillige Vorsorge nicht funktionieren wird. In den Genuss einer Rente kommen will jeder, nur pflegebedürftig werden will niemand. Und jetzt will die Koalition jungen Menschen vermitteln, dass sie für etwas vorsorgen sollen, was sie gar nicht wollen.

Es bedarf eines Kraftaktes der Gesellschaft. Alle Einkommensarten müssen herangezogen werden. Mir ist lieber, ich zahle in eine Kasse, von der ich weiß, dass alle sich daran beteiligen. Niemand stiehlt sich heraus. Und am Ende brauche ich es nicht. Etwas Schöneres könnte mir in diesem Fall gar nicht passieren.

Kaplan: Man will die Sozialabgaben möglichst gering halten. Wenn die Regierung private Vorsorge fördert, hält sie den Beitrag auf niedrigem Niveau.

Aber sie lügt sich in die Tasche. Was fehlt, muss sie aus Steuermitteln zuschießen. Oder Leistungen fallen weg. Das System muss solidarisch finanziert bleiben. Der Pflichtbeitrag muss angepasst werden. Freiwilligkeit ist eine politische Lüge.

Ärzte Zeitung: Das Thema Personalmangel kam auch aus anderer Richtung zur Sprache. Die EU fordere das Abitur als Zugangsvoraussetzung für Pflegeberufe, hieß es.

Kaplan: Dass die angesprochene EU-Richtlinie ein Pflege-Abitur verlangt, wurde hinein interpretiert. Voraussetzung sollen zwölf Schuljahre sein. Als Arzt bin ich hier ganz eigennützig.

Ich arbeite viel lieber mit einer qualifizierten Krankenschwester zusammen. Je weniger gut sie ausgebildet ist, desto mehr muss ich selbst leisten. Wir brauchen akademisch ausgebildete Pflegepersonen, zum Beispiel für Führungsaufgaben.

Westerfellhaus: In der von mir geführten Bildungseinrichtung, einer ehemaligen klassischen Krankenpflegeschule, haben wir in den vergangenen fünf Jahren nur Menschen mit einer zwölfjährigen Schullaufbahn eingeschrieben.

Davon sind 60 bis 70 Prozent Abiturienten. Der Schritt der letzten Bundesregierung, auch Hauptschülern den Zugang zu den Pflegeberufen zu ermöglichen, aber gleichzeitig die Prüfungsanforderungen heraufzusetzen, war falsch.

Junge Menschen mit niedriger Schulbildung in einen Beruf zu geben, in dem sie in der Probezeit scheitern, ist unverantwortlich. Niemand in der Pflege beabsichtigt, alle Pflegekräfte studieren zu lassen.

Aber: Wir stellen fest, dass es junge Menschen gibt, die in den Beruf gehen, weil sie studieren und dann pflegewissenschaftliche Erkenntnisse in die Arbeit einfließen lassen können. Es ist aber auch in Ordnung, zunächst eine bodenständige Ausbildung zu machen mit der Perspektive, sie später durch weitere Module zu ergänzen.

Wir brauchen auch die Assistenzberufe. Aber wir müssen den Leuten Aufstiegsmöglichkeiten anbieten. Allerdings muss die Profession selbst bestimmen, wer mit welcher Qualifikation in die Ausbildung geht.

Kaplan: Zu meiner Zeit als Assistenzarzt hat eine ausgebildete Krankenschwester noch Puderdosen aufgefüllt. Das kann es nicht sein. Wir müssen dahin kommen, dass die eine oder andere Tätigkeit, die vorher der Assistenzarzt gemacht hat, nun die besonders qualifizierte Pflegekraft macht.

Ärzte Zeitung: Übertragung von Heilkunde. Ein wahres Reizthema der Gesundheitspolitik.

Westerfellhaus: Der Knackpunkt ist, dass die Ausbildungs- und Prüfungsordnung nicht zu Ende gedacht ist. Es ist nicht festgelegt, was eine Pflegekraft tun darf. Das erklärt die Diskussionen um die Begriffe Delegation, Substitution und Allokation.

Bei einer Neuverteilung der Aufgaben, brauchen Ärzte und Pflegekräfte Rechtssicherheit. Das ist eine Forderung an die Bundesregierung: Wenn Ihr eine neue Pflegeausbildung macht, dann regelt auch die berufsrechtlichen Geschichten.

Kaplan: Die Synergieeffekte sind das Entscheidende. Wir müssen den Teamgedanken pflegen. Je länger ein Team besteht, desto besser funktioniert es, desto eher wissen alle voneinander, was sie können. Ärzte fragen sich oft, wie viel kann und wie viel darf ich delegieren?

Ärzte Zeitung: Wie sollte die Verantwortung denn geregelt sein?

Westerfellhaus: Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Einrichtung von Modellversuchen für die Übertragung von Heilkunde gibt die Richtung vor. Wenn der Arzt die Versorgung des diabetischen Fußes an eine Pflegekraft überträgt, dann kann es ja nicht sein, dass die dafür keine Verantwortung übernimmt.

Wir können als Berufsgruppe nicht Ansprüche stellen, und bei Problemen sagen wir, war nicht so gemeint, und wir schustern dem Arzt die Verantwortung wieder zu. Das geht in keinem Fall.

Kaplan: Wenn der Patient mit einer Wunde kommt, dann muss ich als Arzt die Differenzialdiagnose stellen: Woher kommt die Wunde? Das ist eine ärztliche Aufgabe. Dann stelle ich die Indikation für das Wundmanagement.

Dann kommt der Punkt, an dem ich die Aufgabe an eine entsprechend qualifizierte Kraft übertrage. Die übernimmt dann die Durchführungsverantwortung und auch die Haftung.

Aber: Wenn der eine seine Aufgaben einfach an den anderen delegiert, ist das letztendlich keine Lösung für den Personalmangel auf beiden Seiten. Effektive Teams kommen mit deutlich weniger humanen Ressourcen zurecht.

Ärzte Zeitung: Für die Ärzte in den Krankenhäusern streitet öffentlichwirksam der Marburger Bund. Die Pflege findet für ihre Anliegen nicht soviel Aufmerksamkeit.

Westerfellhaus: Eines muss klar sein: Wenn Ärzte mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen bekommen, dann heißt das, dass die Pflege das auch bekommen muss.

Das Problem sind nicht die Tariferwartungen der Ärzteschaft, sondern eine unzureichende Krankenhausfinanzierung. Die Berufsgruppen sollten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Wir haben so etwas wie den Marburger Bund für die Pflege noch nicht. Aber: Wir sind 1,2 Millionen. Wir sind Wähler.

Kaplan: Sie sollten sich zu einer Art Interessenvertretung und Gewerkschaft weiterentwickeln und dann den Schulterschluss mit dem Marburger Bund suchen.

Westerfellhaus: Der Pflegerat wird keine tarifliche Gewerkschaft werden. Aber er wird die Aufstellung einer Gewerkschaft für Pflegeberufe unterstützen. Die Zeit ist reif.

Das Gespräch führten Wolfgang van den Bergh und Anno Fricke

Lesen Sie dazu auch: Interview: "Wir können nicht mehr" Die Welt der Pflege vor Erschütterungen Wer arbeitet eigentlich in der Pflege? Der Standpunkt: Pflegereform - bitte nachlegen!

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