Mangelernährung

Der unsichtbare Feind der Kinder in Madagaskar

In Madagaskar gibt es zwar keine Hungersnot. Dennoch sterben jährlich Tausende Kinder an Mangelernährung - trotz tropischen Klimas und fruchtbarer Böden.

Von Jürgen Bätz Veröffentlicht:
Eine Sozialarbeiterin misst den Armumfang eines Kleinkindes.

Eine Sozialarbeiterin misst den Armumfang eines Kleinkindes.

© Jürgen Bätz / dpa

ANTANANARIVO. Laufen hat Sitraka erst mit vier Jahren gelernt. Der heute Fünfjährige ist am gleichen Tag geboren wie der Nachbarsjunge Miranto, doch Sitraka wird geistig und körperlich nie mit ihm gleichziehen können. Miranto ist quirlig und wiegt 18 Kilogramm, Sitraka bringt keine 11 Kilogramm auf die Waage, kann bislang kaum sprechen und ist einen ganzen Kopf kleiner.

Sitraka ist Opfer von chronischer Mangelernährung. Damit ist er in Madagaskar kein Einzelfall: In dem Inselstaat vor dem südöstlichen Zipfel Afrikas gilt jedes zweite Kind im Alter von bis zu fünf Jahren als mangelernährt. Dem UN-Kinderhilfswerk Unicef zufolge sterben in Folge der Mangelernährung jedes Jahr 18.000 Kinder unter fünf Jahren.

Kinder sind für ihr Leben gezeichnet

Wenn in einem Land eine Hungersnot herrscht, gibt es Fotos von ausgemergelten Menschen und apathischen Kindern mit Hungerbäuchen. Mangelernährung hingegen ist ein weitgehend unsichtbarer Feind. Betroffene Kinder bekommen oft genügend Kalorien zu essen, aber die Nahrung ist oft einseitig oder qualitativ schlecht, es fehlt an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen.

"Manche Kinder sind durch die Mangelernährung für ihr Leben gezeichnet", sagt Simeon Nanama, der bei Unicef in Madagaskar verantwortlich ist für Ernährungsprogramme. Die Kinder wüchsen nicht richtig, sie blieben geistig zurück und ihr Immunsystem sei geschwächt; es gebe viel häufiger Todesfälle wegen Krankheiten wie Masern oder Durchfall.

Das zeigt sich auch in den Armenvierteln der Hauptstadt Antananarivo. Müll wird hier zumeist auf die Straße geschmissen, die kleinen Kanäle zwischen den Hütten sind völlig verdreckt, gleich daneben werden am Boden liegende Lebensmittel verkauft. Hier betreibt die französische Hilfsorganisation Action contre la faim ein kleines Zentrum, in dem pro Woche rund 140 mangelernährte Kinder und deren Mütter betreut werden.

"Die Menschen hier haben nicht genug Geld, um ausreichend Essen zu kaufen. Und wenn es von der Menge her reicht, dann ist oft die Qualität der Lebensmittel ungenügend", sagt Ndrema Rakotomiraho, stellvertretender Leiter des Zentrums.

Rasoafaranarivo Narindra hat ihren sieben Monate alten Sohn in das Zentrum gebracht. "Ich habe gemerkt, dass er zu wenig wiegt", sagt die 21-jährige Mutter. "Deshalb dachte ich mir, dass es vielleicht ein Problem mit der Ernährung gibt." Ihr Sohn wiegt 5,2 Kilogramm, als normal gilt in seinem Alter ein Gewicht von rund acht Kilogramm. Jetzt bekommt der Junge jeden Tag das von der Hilfsorganisation ausgegebene Nahrungsergänzungsmittel "Plumpy Sup". Der leicht salzige, zähe Brei wird in Madagaskar produziert und enthält zahlreiche Vitamine und Nährstoffe.

Für Madagaskar ist die chronische Mangelernährung eine nationale Krise. Einer Unicef-Studie zufolge belaufen sich die wirtschaftlichen Folgen wegen geringerer Produktivität, angeschlagener Gesundheit und höherer Sterblichkeitsrate jährlich auf rund 1,5 Milliarden Dollar - knapp 15 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes.

Für die Kinder bleibt nur Reis

Doch Madagaskar mit seinen 23 Millionen Einwohnern wird von internationalen Geberländern meist nur wenig beachtet. Vergleichbare Länder wie Malawi, Äthiopien oder Simbabwe bekommen pro Kopf mehr als doppelt so viel Hilfsgelder. Die Vereinten Nationen schlagen nun einen zehnjährigen Aktionsplan vor, der etwa 40 Millionen Euro pro Jahr kosten würde. Damit ließen sich laut Unicef die wirtschaftlichen Folgekosten der Mangelernährung um 40 Prozent senken und ein Drittel der jährlich 18.000 Todesfälle vermeiden.

Wieso die Lage in Madagaskar so schlimm ist, stellt viele Forscher und Helfer vor ein Rätsel. Das Klima ist tropisch, es gibt viel fruchtbares Land.

Die plausibelste Erklärung dafür ist, dass viele Eltern nicht wissen, dass für gesundes Wachstum eine abwechslungsreiche Ernährung nötig ist. Obst und Gemüse wird auf Märkten in den Städten verkauft, doch für die Kinder bleibt oft nur Reis.

Auch die Mutter des mangelernährten Sitraka muss jeden Cent dreimal umdrehen. Ihr Mann ist Alkoholiker, ihre drei Kinder versorgt sie im Wesentlichen alleine. Mit dem Verkauf von Gemüse kommt sie auf ein Monatseinkommen von 72.000 Aria, rund 20 Euro.

Bei der Frage, was bei der Ernährung von Sitraka schiefgelaufen ist, blickt sie bedrückt zu Boden. Bei seiner Geburt sei das Gewicht noch normal gewesen. Doch dann ging es rapide bergab. "Ich hatte große Angst, dass ersterben würde." (dpa)

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