Gemsengewölle machen den Wildschütz schwindelfrei und kugelfest

Von Martin Halter Veröffentlicht:

Der Bergdoktor, der fesch und furchtlos über gähnende Schlünde zur verunglückten Sennerin hinaufsteigt, gehört zu den populärsten Fernseh- und Groschenromanhelden. In den Alpen war er, wie jetzt eine kleine, aber feine Ausstellung im Zürcher Medizinhistorischen Museum zeigt, eigentlich überflüssig: Milch und Käse, Bergluft und Höhensonne nahmen ihm die Arbeit ab.

"Es haben die Einwohner unserer hohen Gebirge starke und von Krankheiten befreyte Leiber und ehrliche, aufrichtige Gemüther", schrieb Johann Jacob Scheuchzer 1716. "Sie leben einfältig, gemeinlich von Milch und Milchspeisen; diese Landeskraft bekommt ihnen besser als die niedlichsten Speisen aus frömden Landen".

Wurde der zähe Almöhi wider Erwarten doch krank, wußte er sich mit Naturheilmitteln und Zaubersprüchen selbst zu helfen. Die bis in magische Vorzeiten zurück reichende Ethno- und Erfahrungsmedizin der Alpen übernahm in mancher Hinsicht eine Pionierrolle bei der Durchsetzung moderner Diagnosetechniken und Therapien in Europa. Die erste Röntgenaufnahme der Schweiz 1896 wurde nicht zufällig in Davos gemacht; und auf dem Zauberberg aller Schwindsüchtigen wurden wenig später auch Höhen- und Heliotherapie und Dr. Auguste Rolliers "moralische Orthopädie" erfunden.

So haben die Geheimrezepte von Kräuterweiblein, Käsern und geschäftstüchtigen Landpfarrern ihren Teil dazu beigetragen, daß die Schweiz noch heute ein bedeutender pharmazeutischer und touristischer Standort ist, das Land, in dem Milch und Arnikatee fließen, Kräuterbonbons und Schokolade gesünder zu sein scheinen als anderswo.

Kräuterpfarrers Johann Künzles "Chrut und Uchrut" war nicht nur das - nächst der Bibel - meistverkaufte Buch der Schweiz, sondern auch die Keimzelle der heute noch florierenden "Pfarrer Künzle AG": In Gottes Apotheke, glaubte der knorrige Rauschebart, ist gegen jedes Übel ein Kraut gewachsen. Die Zürcher "Bergapotheke" bietet heute kein Gemsengewölle (macht den Wildschütz kugelfest und hilft gegen Schwindel), Geierhirn oder Bärenfett mehr an; auch Drachenstein, Ochsenharn und "Kühkot" aus Gottes "Dreckapotheke" sind ein wenig in Verruf geraten. Aber Künzles "Professorentee" und Murmeltierfett verkaufen sich immer noch prächtig, ganz zu schweigen von Ricola-Bonbons, Nestlés Alpenmilch und Sprüngli-Pralinen.

Eidgenössische Ärzte und Naturforscher wie Konrad Gessner, Scheuchzer und Albrecht von Haller begannen früh das Lob der Blut verdünnenden Alpenluft zu singen, und Jean-Jacques Rousseau und zivilisationsmüde "Thalsieche" ließen sich nur zu gern von ihren sagenhaften Erfolgen überzeugen.

Der beste Beweis dafür war die "Schweizer Krankheit", das Heimweh: Es befiel den Eidgenossen nur in der Fremde und endete oft mit seinem Tod, entweder durch Auszehrung oder, wie im Falle fahnenflüchtiger Söldner, durch Erschießen. Johannes Hofer führte die "Nostalgia" 1688 auf "unrichtige Einbildungskraft" und die unbändige Sehnsucht nach heimischen Suppen und "vaterländischer Freyheit" zurück, Scheuchzer auf die dickere Luft im Flachland, Rousseau auf die Musik des "Kuhreihens".

Noch Johanna Spyris "Heidi" wird im Frankfurter Exil heimwehkrank - und wieder gesund, sobald sie beim Geißenpeter wieder Almluft schnuppert; Freundin Klara kann sogar den Rollstuhl wegwerfen und wieder gehen. Unstrittig war auch die "erquickende und vergnügliche" Wirkung von Kuhstall-, Milch- und Molkekuren; jedenfalls machten sie Kuhdörfer wie Herisau oder Gais zu Pilgerstätten eines mondänen Wellness-Tourismus. Der Ruf der Alpenmilch ist noch heute intakt, und auch Ziegenmolke, "high as the Alps in Quality", ist im Kefir-Zeitalter wieder im Kommen.

In Alpenbädern wie Leuk oder St. Moritz hatten schon im Mittelalter Gichtkranke Heilung gesucht. Um 1900 entdeckten die Mediziner die günstige Wirkung von Licht-, Luft- und Sonnenbädern auf tuberkulöse Patienten (und das Schweizer Hotel- und Sanatoriumswesen). Oscar Bernard ließ sich 1902 durch das Vorbild des Bündner Fleisches von der aseptischen, eintrocknenden Wirkung der Höhensonne auf offene Wunden überzeugen.

Die Liegekuren zogen sich, wie wir aus Thomas Manns "Zauberberg" wissen, oft jahrelang dahin: Viele Schwindsüchtige fanden, systematisch gemästet und allen Flachlandvergnügungen entfremdet, nie mehr den Weg zurück, wie die Ausstellung mit Bahntickets "gültig bis zur Heilung" und historischen Gewichtszunahmetabellen belegt. Erst mit dem Aufkommen der Antibiotika in den 40er Jahren endete die große Zeit der Schweizer Höhenkurorte.

Die Ausstellung "Kräuter, Kröpfe, Höhenkuren" ist noch bis Ende März im Zürcher Medizinhistorischen Museum in der Rämistraße 69 zu sehen und zieht danach weiter nach Chur. Das Begleitbuch von Margrit Wyder kostet 48 Franken.

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