"Sie waren Karrieristen, Antisemiten oder auch schlicht Sadisten"

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"Hier war ein hochmoderner Operationssaal", erklärt Astrid Ley den überraschten Besuchern im einstigen Krankenrevier in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen nördlich von Berlin. "Die Häftlinge hatten davon natürlich nichts", fügt die Historikerin hinzu. Die Ausstattung war Teil jener geschönten Fassade, die die SS für die Außenwelt errichtete. In die vom übrigen Lager abgeschirmte Krankenstation wurden vorzugsweise Gästegruppen, darunter ausländische Journalisten, geführt.

Die neue Dauerausstellung "Medizin und Verbrechen - Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936-1945" gewährt tiefe Einblicke in die grausame Welt hinter der Fassade. Für die Häftlinge gab es nur eine medizinische Minimalversorgung - um Seuchen zu verhindern und um ihre Arbeitskraft für die Kriegsproduktion zu erhalten.

Zugleich wurden "Arbeitsunfähige" getötet und nach der NS-Ideologie als "lebensunwert" eingestufte Menschen für die Gaskammern selektiert. Mehrere tausend KZ-Häftlinge starben bei systematischen Krankenmorden und medizinischen Experimente.

Die Ausstellung ist am vergangenen Sonntag im Beisein ehemaliger Häftlinge sowie von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und des Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, eröffnet worden.

Es ist die erste umfassende Ausstellung in einer deutschen KZ-Gedenkstätte zu dem Thema. Dafür wurden seit 1996 die beiden Revierbaracken - vermutlich die ältesten erhaltenen KZ-Baracken überhaupt - saniert und zum Museum umgebaut.

Auf 700 Quadratmetern ist als Summe mehrjähriger Forschungen die größte Ausstellung der Gedenkstätte mit mehr als tausend Exponaten entstanden. "Viele überlebende Häftlinge haben uns Erinnerungsstücke als Leihgaben oder Schenkung überlassen", erzählt Ley.

Dazu zählt beispielsweise ein Schachspiel aus Brot. Russische Kriegsgefangene hatten es aus Dankbarkeit für einen deutschen Häftling geformt, der ihnen half. "Den Häftlingen gelang es immer wieder, kleine Nischen der Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit des Lagers zu schaffen", erläuterte Historikerin Astrid Ley.

Neben Lebensschilderungen von Häftlingen und Häftlingsärzten dokumentiert die Ausstellung auch vier Biografien von SS-Ärzten. "Sie zeigen gewissermaßen Charaktertypologien der Mediziner, die sich entgegen dem medizinischen Ethos für diese Arbeit hergaben; sie waren Karrieristen, Antisemiten oder auch schlicht Sadisten", sagt Ley. SS-Ärzte waren nicht nur dabei, als Gaswagen für den Massenmord erprobt wurden, sondern auch als Mitarbeiter des kriminaltechnischen Instituts Berlin vergiftete Munition an Gefangenen testeten.

In Sachsenhausen gab es mehr als zwanzig Versuchsreihen an Menschen. So wurden unter anderem elf jüdische Kinder und Jugendliche aus dem Vernichtungslager Auschwitz nach Sachsenhausen gebracht, um an ihnen Hepatitis-Impfstoffe auszuprobieren. "Wir zitterten jeden Tag vor der SS", erinnert sich Saul Oren, der als damals 14jähriger zu dieser Gruppe gehörte.

"Wir hatten keinen Zweifel, daß sie uns am Ende als Zeugen ihrer Taten umbringen würden." Tatsächlich ermordete die SS noch im Februar 1945, als die Rote Armee schon an der Oder stand, täglich Kranke in den Gaskammern. Daß bei der Befreiung im April noch etwa 3000 Menschen im Krankenrevier lebten, lag einzig daran, daß den Nazis keine Zeit mehr geblieben war, alle zu töten.

Die Ausstellung beleuchtet auch die nationalsozialistische "Zigeunerforschung" im Konzentrationslager, die als wissenschaftliche Rechtfertigung für den Massenmord an Sinti und Roma gelten sollte. (dpa/ddp)

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