Mit Weihrauch und Peitsche gegen das Böse

Was passiert, wenn man sich von einem echten Schamanen behandeln lässt? Ein Besuch im Schamanenkrankenhaus in der russischen Republik Tuwa.

Von Monika Hippe Veröffentlicht:
Schamanin Aida Lanzyi in ihrer Praxis in Kyzyl - zusammen mit Stoffpuppe Erlik, dem "Herrn des Totenreichs" (r.)

Schamanin Aida Lanzyi in ihrer Praxis in Kyzyl - zusammen mit Stoffpuppe Erlik, dem "Herrn des Totenreichs" (r.)

© Hippe

KYZYL. "Wir haben keinen Termin mehr frei. Wenn Sie nicht angemeldet sind, geht es nicht", sagt die Schamanenhelferin. Nach längerem Betteln findet sie doch noch eine Lücke. Sie kritzelt den Namen und den Preis auf einen Zettel: 2000 Rubel (ca. 45 Euro) kostet die Behandlung, egal welche Beschwerden vorliegen.

Ein Besuch im Schamanenkrankenhaus in der russischen Republik Tuwa: Das Wartezimmer ist blau gestrichen, die Wände leuchten wie draußen der Himmel über der Steppe.

Auf einer unbequemen Holzbank wartet man ein Weilchen und beobachtet die Dame an der Rezeption. Sie trägt Strickpulli und Stoffhose. Hin und wieder humpelt sie auf Krücken zu den Behandlungsräumen der Gemeinschaftspraxis, um jemanden anzumelden. Dabei vermeidet sie es, auf die Türschwelle zu treten, das bringt Unglück!

Schamanen sehen sich als Vermittler zwischen den Menschen in der mittleren Welt und den guten und schlechten Geistern in der oberen und unteren Welt. Wer krank ist - glauben sie - sei von bösen Geistern besessen.

Die wenigsten Europäer glauben so etwas. Doch immer mehr Menschen halten es für möglich, dass irgendwo zwischen Himmel und Erde Energien existieren, die wissenschaftlich nicht erklärbar sind und die vielleicht von Schamanen gelenkt werden können.

Schon der Großvater war Schamane

Endlich geht die Tür auf, der Geruch von Weihrauch strömt heraus, die Holzdielen knarzen. Aida Lanzyi bittet den nächsten herein. Sie ist anerkannte Kinderschamanin, aber sie behandelt auch Erwachsene. Ihren Beruf hat sie vom Großvater geerbt.

Das erste Mal hat sie mit 15 die Geister gerufen. Ihr Äußeres gleicht dem Klischee eines Indianerhäuptlings: Sie trägt ein mit bunten Stoffstreifen besetztes Gewand und auf Ihrem Kopf thront ein gebogener Fächer aus Vogelfedern. Ihr Blick ist streng. Welche Beschwerden? - Magenprobleme, Verspannungen im Nacken - die üblichen Zivilisationskrankheiten aus der westlichen Welt!

Sie fühlt den Puls und bittet auf einem Holzstuhl Platz zu nehmen.

Ein wenig unheimlich ist es in ihrer Praxis schon: An der Wand hängen mehrere Tierschädel, ein Fuchsfell und eine Bocksbeutelflasche, genäht aus der Blase eines Yaks. Auf dem Schreibtisch sitzt eine abgegrabbelte Stoffpuppe mit einem kohleschwarzem Gesicht und einer viel zu langen Nase.

Kein Spielzeug für die kleinen Patienten, sondern ‚Erlik‘, der Herr des Totenreiches. Aida hat ihm eine Schale mit Quark und ein angebissenes Brot geopfert. Schließlich hilft er ihr, Kontakt zu den Geistern aufzunehmen.

Früher hatte in Tuwa - einer unabhängigen Republik Russlands, die nördlich der Mongolei liegt - jede Sippe einen eigenen Schamanen. Er behandelte kranke Patienten, begleitete Hochzeiten und Begräbnisse und schamante für eine erfolgreiche Jagd.

Im Kommunismus der 40er bis 60er Jahre wurde versucht, diese Religion wie auch den Buddhismus auszulöschen. Die Trommeln wurden verbrannt und jegliche Rituale verboten. Erst nach Auflösung der Sowjetunion begann der mystische Glaube wieder zu blühen.

1997 trat das freie Religionsrecht in Kraft. Seitdem haben sich viele Schamanen zusammengeschlossen. Sie besitzen jetzt Handys und Websites und halten Konferenzen in der ganzen Welt.

Aida Lanzyi hat vor einigen Jahren einen Vortrag auf dem Schamanensymposium in Italien gehalten. Was sie von westlicher Schulmedizin hält? "Sie ist ok, jede Kultur hat ihre eigene Art, Krankheiten zu heilen", sagt sie. Und wenn ein Patient nicht an Geister glaubt? "Das spüre ich, aber ich behandle ihn trotzdem", meint sie.

Eine Peitsche und dampfende Wacholdersträucher

Zur Reinigung wedelt die Heilerin mit dampfenden Wacholdersträuchern durch den Raum. "Nun bitte an etwas schönes denken!" fordert Aida. Dann massiert sie Schultern und Nacken. Bei jeder Bewegung klingeln die Glöckchen an ihrem Gewand und verbreiten eine fröhlich-schaurige Stimmung.

Plötzlich nimmt sie eine Peitsche und knallt auf die rechte Schulter, so dass man gehörig zusammenzuckt. Links, rechts, links im Rhythmus. Doch der Schmerz ist auszuhalten. Die Hiebe sollen hartnäckige böse Geister vertreiben. Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen werden manchmal regelrecht ausgepeitscht.

Am Ende der Behandlung bearbeitet Aida ihre Schamanentrommel, um die Geister zu beruhigen. "Es gibt eine Frau, die Ihnen Schaden zufügen will", verkündet sie ihre Diagnose. "Sie ist der Grund für die Verspannungen".

Als Abwehr empfiehlt sie viel Schlaf und positives Denken. Auch ein kleines Amulett behängt mit Federn und Tier-Knöchelchen könne als Schutz gegen das Böse dienen. Ihr Kollege verkauft es nebenan für 40 Euro.

Auch ohne Amulett sind am Abend sind die Muskeln deutlich lockerer, der Magen hat sich erholt. Ob das von der Behandlung kommt? Oder von dem ausgiebigen Nachmittagsschlaf? Gut möglich, dass es am positiven Denken liegt, das spätestens begonnen hat, als die Schamanin zum Abschied ein langes Leben prophezeite. Nur wer die mysteriöse Frau ist, bleibt vorerst ein Rätsel.

Reiseveranstalter: z.B. Baikal Express, www.baikal-express.de, oder Lernidee Erlebnisreisen, www.lernidee.de

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