Küss mich, nochmal!

Philematologie ist die Wissenschaft vom Küssen. Ein eher exotischer Forschungszweig. Es geht dabei zum Beispiel um die Bussi-Bussi-Kultur. Und um das oft merkwürdige Kussverhalten von Politikern.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Breschnew küsst Honecker, Gemälde an der Berliner East-Side Galerie, Liebespaar, provozierende Küsse bei der Street-Parade in Zürich. (v.l.).

Breschnew küsst Honecker, Gemälde an der Berliner East-Side Galerie, Liebespaar, provozierende Küsse bei der Street-Parade in Zürich. (v.l.).

© imago / imagebroker; BennyWeber / fotolia.com; Geisser / Imago

Er beugt sich über sie, legt den Arm um ihre Schulter und küsst sie. Das ist nicht das Ende eines Hollywood-Schmacht-Streifens, sondern das Ende einer EU-Konferenz, bei der ein weiteres Milliarden-Paket für Griechenland geschnürt wurde.

Die Akteure sind Politiker: Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker küsst die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde. Das Foto geht durch die Medien. Es irritiert. Zu innig wirkt der Kuss, auch wenn er "nur" auf die Wange adressiert ist.

Ein Kuss mit Höhenunterschied wirkt erotischer

Die Bremer Kulturanthropologin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Ingelore Ebberfeld hat dafür eine Erklärung. Schuld ist das Rednerpodest. "Ein Kuss mit Höhenunterschied wirkt viel erotischer als wenn Mann und Frau sich auf gleicher Ebene küssen", sagt sie.

Nicht umsonst seien in Hollywood vor 50 Jahren Kussszenen verboten gewesen, bei denen die Frau auf dem Bett liegt und der Mann sich über sie beugt.

Nicht weniger irritierend als der Kuss zwischen Juncker und Lagarde wirkte zu seiner Zeit der sozialistische Bruderkuss. Zwei Männer küssen sich in der Öffentlichkeit auf den Mund - ein Skandal! Das Foto von Leonid Breschnew und Erich Honecker ging um die Welt.

Im Kontext betrachtet, fällt der Bruderkuss jedoch in die gleiche Kuss-Kategorie wie der Kuss zwischen Juncker und Lagarde: Er symbolisiert eine Art vertraglicher Verpflichtung, "Hingabe an die Verpflichtung", sagt Ebberfeld.

Zwei Drittel der Menschen neigen den Kopf beim Küssen nach rechts

ABC des Küssens

© New Line / shutterstock

Ein Adorationskuss zeigt Verehrung und Unterordnung

Bussis (österr.), Bissous (frz.), Besitos (span.) gibt es zur Begrüßung und zum Abschied auf die Wange

Mit einem Doktorkuss nimmt der Doktorvater den Doktoranden nach der Verteidigung seiner Arbeit in einen würdevollen Kreis auf.

Erlösungsküsse machen aus Fröschen Prinzen.

Filmküsse gibt es seit 1896. Sie unterliegen strengen Vorschriften und werden mitunter legendär.

Gnadenküsse erlassen Strafen.

Der Handkuss ist aus der Mode, außer als Adorationskuss beim Papst.

Der Judaskuss ist verräterisch.

Knutschflecke hießen früher auch Kusswunde, Liebesbiss oder Venusmal

Luftküsse schickt man mit der Hand los.

Musenküsse geben Künstlern Inspiration.

Der Nasenkuss ist ein Begrüßungsritual der Maori.

Der Osterkuss der ortho- doxen Kirche gilt als Vater des Bruderkusses.

Pflichtküsse tauschen zum Beispiel Jugendliche beim Flaschendrehen aus.

Rauchküsse sind extrem gesundheitsschädlich.

Schmatzer: Bayrisch für dicken Kuss

Der Verlobungskuss war im Mittelalter rechtlich grundsätzlich bindend.

Wangenküsse kommen jetzt auch in der Politik zunehmend in Mode.

Ob Zungenküsse sexuelle Belästigung sein können, wird derzeit gerichtlich geklärt.

Quelle: Manfred Spitzer, u.a.

Zum Abschluss von Verhandlungen werden gern Küsse ausgetauscht. Das hat lange Tradition. "Ein Vertrag wurde früher mit Trunk oder Kuss besiegelt", so die Bremer Wissenschaftlerin.

Ingelore Ebberfeld ist Philematologin. Sie hat Küsse zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen gemacht. In Deutschland ist sie eine von wenigen Vertretern dieses Forschungszweigs. Beiträge zur Kussforschung seien oft Abfallprodukte der Forschung, sagt sie. Interessant sind sie allemal.

So stellte die Philematologie zum Beispiel fest, dass zwei Drittel der Menschen den Kopf beim Küssen nach rechts neigen. Weitere Ergebnisse der empirischen, eher naturwissenschaftlichen Kussforschung: Ein Mensch verbringt im Schnitt von 70 Lebensjahren mehr als 76 Tage mit Küssen.

34 Gesichtsmuskeln zum Küssen

Zum Küssen werden alle 34 Gesichtsmuskeln und 112 weitere "für die Haltung" gebraucht, und Küssen regt den Speichelfluss an.

Auch die Medizin hat ihren Beitrag zur Kussforschung geleistet.

Von ihr kommt unter anderem der Hinweis, dass Küsse gesundheitsschädlich sein können - nicht nur weil Bakterien ausgetauscht werden. Für Erdnussallergiker kann ein Kuss schwerwiegende Folgen haben.

Die Philematologie ist ein äußerst interdisziplinärer Forschungszweig, wie der Neurologe Professor Manfred Spitzer zeigt. Sie ist in der Kultur-, Sprach-, Geschichts- und Sozialwissenschaft ebenso zuhause wie in naturwissenschaftlichen Fächern.

Man könnte meinen, es gehe der Wissenschaft vom Küssen so wie dem Kuss selbst und sie verbreitet sich immer mehr.

Nicht nur in der Politik ist das Küssen inzwischen an der Tagesordnung. Der Rennfahrer Sebastian Vettel scheut nicht davor zurück, seinen Mund direkt auf die Linse der Fernsehkamera zu drücken. Die Popsängerinnen Madonna und Britney Spears tauschen einen scheinbar leidenschaftlichen Zungenkuss vor laufenden Kameras.

"Noch vor 20 Jahren wäre es unmöglich gewesen, dass zwei Fußballer sich nach einem Sieg gegenseitig küssen, und nicht nur den Pokal", sagt Ebberfeld.

Küssen gehört zum guten Ton in Deutschland

Auch im Alltag werden Küsse an öffentlichen Plätzen heute selbstverständlich ausgetauscht. Für manche Menschen, die in den 50er Jahren groß geworden sind, ist das Bild eines innig knutschenden Paares mitten auf der Straße heute noch irritierend.

Die Philematologin betrachtet diese Entwicklung als eine Folge der sexuellen Befreiung. "Die Traditionen sich im öffentlichen Raum zu verhalten, haben sich verändert", sagt sie. Mehr Küsse - das zeigt auch mehr Emotionalität in der Öffentlichkeit an.

Doch das allein erklärt noch nicht, warum es auch in Deutschland inzwischen beinahe zum guten Ton gehört, sich zu Begrüßung und Abschied zu küssen.

Ebberfeld weist dazu auf zwei Faktoren hin. Maßgeblich für diese Entwicklung hält sie Einflüsse aus anderen Kuss-Kulturen, wie etwa Frankreich.

Die Bussi-Kultur hat aber auch eine Schattenseite: Bei einer Befragung von 514 Menschen hat Ebberfeld festgestellt, dass zehn Prozent nicht gern küssen. "Für diese Menschen ist es problematisch, wenn es schon fast als Beleidigung gilt, das Küsschen zu verweigern", so die Kussforscherin.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 17.03.201223:35 Uhr

"Negerkuss"???

Beim "ABC des Küssens" fehlt noch der zu Recht als diskriminierend gescholtene "Negerkuss", der als "Schokokuss" neutralisiert wurde.

Entsprechend einer Aufforderung des Fachverbandes für Gastronomie der österreichischen Wirtschaftskammer, Speise- und Getränkekarten von „beleidigenden Speisen und Getränken“ zu säubern, haben die ‚Salzburger Nachrichten‘ vorgeschlagen, den beliebten „Mohr im Hemd“ fortan „subsaharische Person mit/ohne Schlag“ (Sahne) zu nennen.

Der "Negerkuss" dürfte dann wohl frei von Diskriminierung "subsaharischer Intimitätenaustausch" heißen? MfG

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