Behinderte und Kranke in der NS-Zeit

Raus aus dem Schatten der Erinnerung

Das Leiden der kranken und behinderten Menschen hatte bislang kaum Raum im öffentlichen Gedenken an die Gräueltaten des Nazi-Regimes. Eine Ausstellung am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert an das Schicksal dieser Menschen.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Heil- und Pflegeanstalt Liebenau im Jahr 1940: Mit solchen Bussen wurden Kranke und Behinderte in die Mordanstalten transportiert.

Heil- und Pflegeanstalt Liebenau im Jahr 1940: Mit solchen Bussen wurden Kranke und Behinderte in die Mordanstalten transportiert.

© Archiv der Stiftung Liebenau

BERLIN. Menschen mit Behinderungen und Nervenkrankheiten galten in der NS-Zeit als "Belastung für Volksgemeinschaft". Ihrem grausamen Schicksal widmet sich jetzt die Wanderausstellung "erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus". Sie wurde am Montag im Paul-Löbe-Haus im Deutschen Bundestag in Berlin eröffnet.

Kranke und Behinderte als NS-Opfer waren lange am Rande des öffentlichen Interesses und Gedenkens. Psychiater, Neurologen, Pädiater und andere Fachärzte, Pflegekräfte und Verwaltungsfachleute haben während der NS-Zeit den Wert des kranken oder behinderten Menschen systematisch vermessen: "Heilbarkeit", "Bildungsfähigkeit" und "Arbeitsfähigkeit" waren die entscheidenden Kriterien.

Die Ausstellung rückt sie nun in den Mittelpunkt. Die dokumentierten Schicksale erschüttern: Irmgard Heiss aus Detmold zum Beispiel. Als Schizophrenie-Patientin lebte sie von 1925 an in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen.

1941 kam die damals 47-Jährige in die Anstalt Weilmünster in Hessen, wo die Erkrankten dem langsamen Tod durch Verhungern ausgesetzt wurden. 1945 ist sie dort gestorben.

Dass heute an die dunkle Geschichte der Medizin erinnert wird, ist vor allem Frank Schneider zu verdanken.

Der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen und ehemaliger Präsident der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat die Dokumentation mit organisiert. Mit der Ausstellung will er die "Opfer ehren und ihnen ihre Würde zurückgeben".

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftswerk: Die DGPPN hatte gemeinsam mit den Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topografie des Terrors die Materialien zusammengetragen und aufbereitet. Schirmherr ist Bundespräsident Joachim Gauck.

Der Wert des Menschenlebens

Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt hatte zu einer Pressekonferenz geladen. "Der Bundestag ist der richtige Ort für diese Ausstellung, denn wir Politiker müssen uns auch mit dem auseinandersetzen, was war", sagte die langjährige SPD-Bundesgesundheitsministerin.

Was ist ein Menschenleben wert? Die Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Schau. "Schließlich sind die grausamen Taten mitteln in der Gesellschaft geschehen", sagt Kuratorin Petra Lutz. Und wurde dennoch über Jahren hinweg verschwiegen.

Barbara Stellbrink-Kesy, Angehörige von Euthanasie-Opfer Irmgard Heiss, ist froh, dass ihre Großtante nun wieder "einen Platz erhält im Gedächtnis der Familie". Sie glaubt, dass innerhalb der Gesellschaft noch viele an "Beschädigungen aus der NS-Zeit leiden" und diese bearbeiten müssen.

Äußerst sehenswert sind auch Video-Interviews, die verschiedenen Perspektiven von Angehörigen, Ärzten und Pflegern zusammentragen: Sie machen Mut, denn sie zeigen auch, dass die persönliche Begegnung nachdenklich stimmt und Veränderungen hervorruft.

Bernd Malchow, Psychiater an der Klinik der Ludwigs-Maximilians-Universität München, erzählt in einem Video-Interview von einem autistischen Jungen, den er als Zivildienstleistender betreut hat. Die Begegnung mit diesem "jungen Freund" hat bei ihm letztlich den Wunsch ausgelöst, Psychiater werden zu wollen - um etwas besser zu machen.

Denn: "Die NS-Zeit hätte dieser Junge nicht überlebt", sagt er bitter. Oder Michael von Cranach, ehemaliger Direktor der Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren.

Die Klinik gehörte in der NS-Zeit zu den zentralen Orten, an dem Kranken zu Tode kamen - mit Tabletten, Spritzen oder durch Aushungern. Er schildert eindrücklich, wie sich das Krankenhaus an die Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht hat.

Die Ausstellung ist bis zum 28. Februar 2014 im Paul-Löbe-Haus im Bundestag zu sehen. Im Anschluss wird die Ausstellung an weiteren Stationen in Deutschland und Europa gezeigt.

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