Interview

Fukushima ist auch Thema in Sprechstunden

Wie haben niedergelassene Ärzte in Tokio die Dreifach-Katastrophe von Fukushima und die Auswirkungen auf ihren Praxisalltag erlebt? Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" kommen zwei japanische Kollegen zu völlig unterschiedlichen Eindrücken.

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Dr. Masato Ueki

Aktuelle Position: Inhaber der Kamiuma Clinic im Tokioter Stadtteil Setagaya und Kooperationsarzt der Deutschen Botschaft

Werdegang: Medizinstudium an der Tokyo Medical and Dental University, danach Forschungsaufenthalte an der Universität Köln und am Max-Planck-Institut für Hirnforschung.

Dr. Thomas Nagano

Aktuelle Position: Inhaber der Tokyo International Clinic, Kooperationsarzt der Deutschen Botschaft in Tokio

Werdegang: Medizinstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, danach in Tokio an der Toho University Facharztausbildung zum Kardiologen.

Ärzte Zeitung: Wie ist das Stimmungsbild unter den Ärzten in Japan ein Jahr nach der Dreifach katastrophe von Fukushima?

Dr. Masato Ueki: Gegenwärtig erleben wir hier in Tokio fast jeden Tag wieder spürbare Erdbeben. Manche befürchten, dass es neue große Nachbeben zur Katastrophe vor einem Jahr im Nordosten Japans gibt oder gar zu einem neuen starken Erdbeben im Großraum Tokio kommt - das seit rund 20 Jahren erwartet wird.

Unter den Ärzten in Japan ist die Stimmung zwölf Monate nach der Natur- und Nuklearkatastrophe von Fukushima sehr unterschiedlich. In einem japanweiten Ärzte-Blog zum Beispiel wird sehr viel über die Gefahren diskutiert, die von der havarierten Atomanlage Fukushima Dai ichi ausgehen.

Im Fokus steht dabei der Atommeiler Nummer 4, in dem viele der verwendeten Brennstäbe ungesichert in einem unstabilen Kühlbad stehen. Sollte es noch einmal ein großes Erdbeben geben oder zu einem gewaltigen Tsunami kommen, so die Befürchtungen von Experten, würde das Kühlbad zerstört werden und die Brennstäbe auf den Boden fallen.

In diesem Falle würden ungeheuerliche Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt werden und in die Luft gelangen. Niemand könnte in der Nähe arbeiten. Sechs Anlagen in Fukushima Nummer 1 würden unkontrollierbar werden. Eventuell könnte es ähnliche Probleme in der Anlage Nummer 2 geben.

Auf der anderen Seite scheinen die Ärzte, die ich Tag für Tag in verschiedenen Krankenhäusern sehe, keine Sorgen zu haben. Für sie ist die Fukushima-Katastrophe weitgehend vorbei. Sie haben sehr viel Arbeit und keine Zeit, sich um die unschätzbaren Risiken zu kümmern.

Jeder muss seine eigenen Umstände, wie zum Beispiel Kinder und deren Schule, berücksichtigen. Viele Deutsche und andere Ausländer haben Japan verlassen. Für uns Einheimische ist das aber nicht so einfach.

Dr: Thomas Nagano: Fukushima ist nicht nur unter den Ärzten ein sehr lokales Ereignis für Japaner. Westlich von Tokio, zum Beispiel in Nagoya und Osaka, war die Stimmung sogar kurz nach dem Erdbeben unverändert.

Dort konnten die Bewohner gar nicht verstehen, wieso man in Tokio so stark Strom spart. In Osaka leuchtete die Stadt genauso hell wie vor Fukushima.

Ärzte Zeitung: Haben Ärztegesellschaften in Japan neue Verhaltensleitlinien für ähnliche Katastrophen herausgegeben?

Ueki: Soweit ich weiß und über Internet zu recherchieren ist, haben die japanischen Ärztevereinigungen keine neuen Verhaltensleitlinien für den Umgang mit Patienten nach der aktuellen Katastrophe oder für künftige Erdbeben veröffentlicht.

Nagano: Nicht, dass ich wüsste.

Ärzte Zeitung: Welche Erfahrung haben Sie für sich persönlich und als Arzt gemacht, sollte sich eine Katastrophe wie Fukushima nochmals ereignen?

Ueki: Ich empfinde es jetzt so, dass Menschen sich auch an schlimmste Situationen gewöhnen können. Fukushima setzt weiter radioaktive Stoffe frei, neue Erdbeben-Serien kommen mit Sicherheit.

Trotzdem bleibt man in derselben Ortschaft. Ich wohne in Tokio. Falls die oben skizzierten Situationen eintreten, kann man nicht viel machen. Meine Frau und Kinder wehren sich stark gegen einen Umzug ins Ausland.

Meine Tochter ist 16 Jahre alt. Sie bereitet sich gerade intensiv auf die Aufnahmeprüfung einer der besten Unis vor. Mein Sohn fängt diesen Frühling mit dem Unistudium in Tokio an.

Nagano: Ich würde mich ähnlich verhalten wie im Falle Fukushima. Nach Tschernobyl hieß es oft, dass mehr als 80 Prozent der so genannten "Strahlenschäden" psychischer Natur sind. Nach Fukushima und der deutschen Berichterstattung kann ich das nur bestätigen.

Fukushima war eine lokale Katastrophe mit zwei bis drei Tagen Gefahr für Tokio - aber auch nur im Falle einer radioaktiven Wolke, die durch das Nicht-Verlassen des Hauses für 24 Stunden vorbeigegangen wäre. Das war von Anfang an bekannt - wenn man sich richtig informiert hatte.

Ärzte Zeitung: Leben und praktizieren Sie noch gerne in Tokio?

Ueki: Ich persönlich würde gerne ins Ausland gehen, wenn ich eine Chance hätte - insbesondere nach Australien. Aber ich bin schon 54 Jahre alt, daher gibt es dort keine Stelle mehr für mich.

Darüber hinaus leben mein 89-jähriger Vater und meine 86-jährige Mutter in ihrem Haushalt in der Nähe meines Hauses. Ich muss sie unterstützen. Meine beiden Kinder wollen in Tokio bleiben. Ich muss leider in Tokio bleiben, auch wenn ich nicht will.

Nagano: Ich fühle mich unverändert. Ich hatte so viel in der Krise zu tun. Am Leben und Praktizieren in Tokio hat sich nichts verändert. Es sind zwar weniger Deutsche im Land, aber das hat auf mich beruflich keine Auswirkung.

Ich war auch mehrmals im Krisengebiet, was mich persönlich schon geprägt hat - aber nicht die Radioaktivität, sondern die Tsunami-Folgen. Durch Fukushima Daiichi ist noch keiner gestorben, durch den Tsunami über 20 000 Menschen. Das darf man nicht vergessen.

Ärzte Zeitung: Sprechen Ihre Patienten das Thema radioaktive Belastung beim Arztbesuch an?

Ueki: Ja. Viele Patienten sorgen sich - insbesondere um ihre Kinder und Enkel.

Nagano: Wenig. Eine Rechtfertigung, wieso man geflohen ist oder auch nicht, höre ich öfters.

Ärzte Zeitung: Sind Ihre Patienten aus Deutschland (Europa, USA, Australien) noch immer verunsichert, oder haben sie sich bereits wieder in das Alltagsleben integriert?

Ueki: Meine aus Deutschland stammenden Patienten in der Praxis sind im Nachgang der Katastrophe fast alle weg. Sie wohnen nicht mehr in Japan.

Nagano: Die Patienten aus Deutschland, die jetzt in Japan sind, haben sich auf verschiedenste Weise mit dem Thema abgefunden. Im Schwarzwald oder Bayerischen Wald zu leben, ist bezüglich der Radioaktivität viel ungesünder. Die Schwermetallbelastung ist zum Beispiel in Japan auch lange nicht so hoch wie etwa in China.

Ärzte Zeitung: Sind nach Fukushima von Seiten einiger Ärztegesellschaften Anti-Atom-Bewegungen entstanden?

Ueki: Ja und nein. Unter Ärzten sind die Meinungen gespalten. Natürlich sind die meisten Ärzte gegen Atomkraft und -meiler. Offizielle Anti-Atom-Bewegungen von Ärzteseite sind leider meist parteipolitisch orientiert, wie die der Kommunistischen Partei Japans.

Unter nicht parteipolitisch aktiven Ärzten sind keine sichtbaren Anti-Atom-Bewegungen entstanden, obgleich sich viele persönlich gegen die Atomkraft äußern.

Ärzte Zeitung: Was denken Sie: Hat Japan als Nation aus der Katastrophe gelernt?

Ueki: Wir haben noch einmal gelernt, dass Japan - und damit die japanische Bürokratie - nicht auf den schlimmsten Fall vorbereitet ist, oder einfach nicht fähig ist, solche Situa tionen zu umgehen, wie es auch schon im Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen ist.

Nagano: Offiziell ist klar geworden, dass das Sicherheitskonzept der Atomkraftwerke in Japan unrealistisch war.

Auf der anderen Seite sind ja die Atommeiler in Japan meist in bevölkerungsarmen Gegenden recht weit weg von Tokio gebaut worden, sodass, wenn etwas passiert, keine großen Menschenmengen verseucht werden. Wie gesagt, in Japan ist Fukushima eine lokale Katastrophe.

Die Fragen stellte Matthias Wallenfels.

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