Viel TV-Konsum, wenig Zuwendung

Soziale Unterschiede prägen das Leben von Kindern offenbar nachhaltiger als bislang angenommen. Acht- bis Elfjährige, die in prekären Verhältnissen aufwachsen, schätzen ihre eigenen Zukunftsaussichten schlechter ein, sie streben niedrigere Bildungsabschlüsse an, bewegen sich weniger und sehen stattdessen überdurchschnittlich häufig fern.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Kinder aus der untersten sozialen Schicht schauen im Schnitt deutlich mehr Fernsehen als Kinder aus gehobenen Schichten.

Kinder aus der untersten sozialen Schicht schauen im Schnitt deutlich mehr Fernsehen als Kinder aus gehobenen Schichten.

© Foto: imago

Die Ergebnisse der World Vision Kinderstudie, die von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld sowie vom Forschungsinstitut TNS Infratest konzipiert und vom christlichen Hilfswerk World Vision kürzlich veröffentlicht wurden, stützen in weiten Teilen die Resultate einer anderen Erhebung. Die Daten des Kinder- und Jugendgesundheits-Survey (KIGGS) hatte das Robert-Koch-Institut in diesem Frühjahr vorgestellt.

Die weitaus meisten Kinder in Deutschland, so ergab die World-Vision-Studie, sind mit ihren Lebensverhältnissen in Familie, Schule, Freizeit und Freundeskreis zufrieden. Es zeigt sich aber auch, wie Armutsrisiken und fehlende finanzielle Ressourcen als Belastung erlebt werden.

Zuwendung fehlt vor allem Kindern mit arbeitslosen Eltern

42 Prozent der befragten Acht- bis Elfjährigen wachsen in einer Familie auf, in welcher der Mann Alleinverdiener ist. Bei 45 Prozent der Kinder sind beide Elternteile oder das alleinerziehende Elternteil regelmäßig erwerbstätig, acht Prozent leben bei arbeitslosen Elternteilen und weitere fünf Prozent in Familien, in denen beide Elternteile keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgehen.

Überraschendes Ergebnis der World-Vision-Studie: Über zu wenig Zuwendung von ihren Eltern beklagen sich nicht vorrangig jene Kinder, deren Eltern beide berufstätig sind, sondern jene, deren Eltern keine Arbeit haben. Die Forscher schließen daraus, dass eine geregelte Erwerbstätigkeit der Eltern die häuslichen Verhältnisse stabilisiert und dabei hilft, die gemeinsam verbrachte Zeit intensiver miteinander zu nutzen.

13 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass sie nur schlecht oder sehr schlecht mit dem verfügbaren Einkommen zurechtkommen. Das stützt Zahlen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, wonach etwa 17 Prozent der 11,5 Millionen Kinder in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben. Die KIGGS-Studie hat zudem ergeben, dass bei diesen Kindern überdurchschnittlich häufig Übergewicht, Bewegungsmangel und psychische Auffälligkeiten vorkommen. Zudem rauchen sie häufiger und sie haben häufiger Unfälle.

Die World-Vision-Studie liefert hierfür neue Belege. So berichteten 41 Prozent der Kinder aus der untersten Herkunftsschicht, regelmäßig mehr als zwei Stunden am Tag fernzusehen, bei Kindern aus den gehobenen Schichten trifft dies nur auf zehn Prozent zu. Auch sonst sind Kinder aus armen Familien in ihrer Freizeit weniger aktiv: Das betrifft sowohl Tätigkeiten im (Sport-)Verein als auch in einer Musikschule oder einer vergleichbaren Einrichtung. Von Mobbing und Gewalt sind Kinder aus der Unterschicht am häufigsten betroffen, wobei vor allem Jungen hierüber berichten.

Studie bestätigt: Bildung hängt stark von der Herkunft ab

Auch die Bildung ist sehr stark von der Herkunft abhängig. Nur ein Prozent der befragten Kinder aus sozial schwachen Familien besuchen ein Gymnasium, aber 18 Prozent jener Kinder, die der Oberschicht zugerechnet werden. Umgekehrt besuchen 19 Prozent der Kinder aus der Unterschicht eine Förderschule, bei Kindern aus der Oberschicht sind es nur ein Prozent.

Fragt man Kinder nach ihren Ängsten, so weisen rund die Hälfte auf Armut, Krieg und schlechte Noten in der Schule. Auch hier gibt es schichtspezifische Unterschiede: Kinder, die in prekären Verhältnissen aufwachsen, antworten laut World-Vision-Studie zu 62 Prozent mit der Angst vor schlechten Noten und zu 55 Prozent mit der Angst vor der Arbeitslosigkeit der Eltern. Kinder aus der Oberschicht nennen hingegen am häufigsten eine allgemeine Angst vor Armut in Deutschland (59 Prozent) und vor Umweltverschmutzung (57 Prozent).

Die Forscher, allen voran der Bielefelder Sozialwissenschaftler und Studienleiter Professor Klaus Hurrelmann, fordern als Konsequenz ihrer Studie, dringend die Rahmenbedingungen der sozial benachteiligten Kinder in Deutschland zu verbessern. "Die schlechteren Startchancen durchziehen und prägen den gesamten Alltag der Kinder und wirken wie ein Teufelskreis."

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