Plädoyer für Ausbau der Familienmedizin

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HANNOVER (cben). Niemand ist alleine krank - so könnte man den Grundansatz der Familienmedizin formulieren. Professorin Ute Thyen von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uni-Klinik Lübeck unterstrich diesen Aspekt beim Symposium "Familienmedizin in Deutschland - Notwendigkeit, Dilemma, Perspektiven" in Hannover besonders mit Blick auf Kinder.

"Eltern und Geschwister sind betroffen, alle müssen einbezogen werden und die Krankheit ebenso bewältigen, wie das erkrankte Kind selbst", sagte Thyen.

Kinder und ihre Familien sind heute anderen und größeren Belastungen ausgesetzt, als noch in früheren Jahren. Das ergab das Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) aus den Jahren 2003 bis 2006, das vom Robert Koch Institut (RKI) erarbeitet wurde.

Ein wesentliches Ergebnis: Kinder aus Familien mit einem Elternteil leiden unter höheren sozialen und gesundheitlichen Belastungen als Kinder, die mit Vater und Mutter zusammen aufwachsen. Die Versorgung von Eltern und Kindern sollte damit auch besonders bei den psychosozialen Risiken und Belastungen ansetzen, hieß es.

Immer mehr Mütter leiden unter chronischen und psychosozialen Erkrankungen. "Insbesondere die prekäre Armutssituation von schätzungsweise mehr als 2,5 Millionen Kindern in Deutschland und die Lebenssituation von Alleinerziehenden und ihren Kindern sind recht gut untersucht", sagte Dr. Jürgen Collanz, Leiter des Forschungsverbundes Prävention und Rehabilitation für Mütter und Kinder an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Doch die Gesundheitsversorgung hinke diesen Erkenntnissen derzeit noch hinterher, erklärten die Referenten. Eigentlich müssten Haus- und Kinderärzte gleichzeitig Früherkennungsuntersuchungen koordinieren, Entwicklungsmonitoring betreiben, impfen, die betroffenen Kinder und ihre Familienmitglieder regelmäßig auf seelische Entwicklungsstörungen untersuchen, in Belastungssituationen beratend begleiten oder den Kontakt zu sozialen Beratungsstelen herstellen und vieles mehr, so Thyen.

Doch die zersplitterten Strukturen im Gesundheitswesen würden so eine Versorgung nicht hergeben. Die damit verloren gehenden Synergien werden von Experten mit 20 bis 30 Prozent des Gesamtvolumens veranschlagt, hieß es.

So würden etwa bei der Rehabilitation in den klassischen indikationsbezogenen Reha-Ansätzen Erschöpfungszustände und psychische Probleme der Mütter vernachlässigt, sagte Collaz. "Von einer vernetzten familienmedizinischen Versorgung ist Deutschland noch weit entfernt", resümierte er.

STICHWORT

Familienmedizin

Der Begriff der Family Medicine hat in den USA und Kanada, in Australien und Neuseeland, in England, in Irland, in Skandinavien, in Holland und in Israel im Laufe der vergangenen vierzig Jahre die Allgemeinmedizin in einem starken Maß geprägt. Die Erforschung der familiären Kommunikationsstrukturen und Prozesse ist seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr und mehr ein zentrales Thema der medizinischen Forschung geworden.

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