Leitartikel

Wie viel gesundes Leben darf uns der Staat vorschreiben?

Das Rauchverbot in Kneipen ist für viele noch okay, mit der Forderung nach dem Veggie-Day hört der Spaß aber auf: Die Menschen in Deutschland wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie gesund sie zu leben haben. Wissenschaftler tüfteln jetzt an der richtigen Gesundheitsstrategie.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Cola, Pommes und ein doppelter Cheeseburger: Bürger wollen sich gesundes Essen nicht vorschreiben lassen.

Cola, Pommes und ein doppelter Cheeseburger: Bürger wollen sich gesundes Essen nicht vorschreiben lassen.

© Marius Graf/fotolia.com

Der Veggie-Day war einer der Faktoren, die zum schlechten Abschneiden von Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl beigetragen haben.

Die Reaktion auf den Vorschlag, an einem Tag in der Woche in Kantinen nur fleischlose Kost zu servieren, war eindeutig: Die Menschen wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie gesund sie zu leben haben.

Anders sieht es aus beim Thema Nichtraucherschutz. Das Rauchverbot in Restaurants, öffentlichen Einrichtungen oder Kneipen finden viele in Ordnung. Liegt das nur daran, dass es viel mehr Raucher als Vegetarier gibt? Wohl kaum.

Der wesentliche Unterschied liegt in der Wahrnehmung: Mit falscher Ernährung wird nur eine Selbstschädigung riskiert, mit dem Rauchen aber auch Dritte.

Der Schutz Dritter - ein starkes Argument

Der Schutz der Nichtraucher dient als Begründung für die Verschärfung des Nichtraucherschutzgesetzes in Nordrhein-Westfalen, das jetzt auch den Tabakgenuss bei Schützenfesten oder im Karneval verbietet.

"Es wird nicht das Rauchen verboten, sondern das Passivrauchen wird eingeschränkt", verteidigt Staatssekretärin Marlis Bredehorst (Grüne) vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium das Gesetz.

Wenn die rot-grüne Landesregierung gegen gesundheitsschädliche Genussmittel hätte vorgehen wollen, dann hätte sie beim Alkohol angefangen.

"Aber das haben wir ausdrücklich nicht gemacht, weil für uns die Selbstbestimmung des Menschen weit im Vordergrund steht", sagt Bredehorst bei der Diskussionsveranstaltung "Zwischen Gesundheitsdiktatur und Gerechtigkeit" im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) an der Universität Bielefeld.

Rechtfertigt nur der Schutz vor dem Passivrauchen eine Intervention des Gesetzgebers? Der Zusammenhang zwischen dem Rauchen und den negativen gesundheitlichen Folgen sei so evident, dass gegensteuernde Maßnahmen angemessen sind, sagt Medizinsoziologe Professor Johannes Siegrist.

Der starke Effekt auf die Gesundheit der Raucher selbst rechtfertigt seiner Auffassung nach staatliche Eingriffe, zumal damit auch Kosten eingespart würden.

Freilich: Kostenersparnisse dürften nicht beliebig als Begründung für Reglementierungen persönlichen Verhaltens herangezogen werden.

Was ist die Gesundheit der Gesellschaft wert?

Wie man hier Interventionsgrenzen ermitteln könnte, das versucht am Bielefelder ZiF die Forschungsgruppe "Normative Aspekte von Public Health" unter Leitung des Juristen Professor Stefan Huster und des Philosophen Professor Thomas Schramme herauszufinden.

Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen wollen dort der Frage nachgehen, was die Gesundheit der Gesellschaft wert ist und ob Eingriffe in die individuelle Freiheit zum Zweck der Gesundheitsförderung gerechtfertigt sind.

Die Wissenschaftler wollen ein Gerüst für die Debatte erarbeiten, sagt Huster. Es gehe zunächst darum, die richtigen Fragestellungen und Kategorien zu finden und das Verhältnis zwischen Selbstverantwortung und Gerechtigkeit zu definieren.

"Zu diesen Themen haben alle starke Überzeugungen, aber es gibt relativ wenig sachliche Analysen", betont Huster.

Zwangsedukation ist keine angemessene Strategie

Der Gesundheitswissenschaftler Professor Rolf Rosenbrock erhofft sich von dem ZiF-Projekt eine verbesserte Annäherung an die "Jahrhundertherausforderung": den Abbau sozialer Ungleichheiten, um gleiche Gesundheitschancen zu erreichen.

"Das kann der Staat allein nicht regeln, das ist auch Sache der sozialen Bewegungen. Der Staat muss dazu die Rahmenbedingungen setzen", sagt Rosenbrock.

Sieht die Politik keinen Handlungsbedarf, wird wenig passieren, um an der Tatsache etwas zu ändern, dass Menschen unterhalb der Armutsgrenze eine deutlich geringere Lebenserwartung haben. Die "Zwangsedukation im Alltag" ist jedenfalls keine angemessene Strategie, meint Rosenbrock.

In Deutschland gehe es nicht mehr nur darum, Kranken zu helfen, sondern Gesundheitsrisiken zu minimieren, so der Rechtswissenschaftlicher Huster.

"Man muss aufpassen, dass man nicht in eine Situation kommt, in der man sagt: Gesundheit ist ein Supergrundrecht, bei dem der Staat alles rechtfertigen kann", warnt er.

Die Forschungsgruppe am ZiF steht noch am Anfang. Die öffentliche Diskussion zum Auftakt ihrer Arbeit hat gezeigt: Eine einfache Antwort auf die Frage "Darf ein Staat seine Bürger zwingen, gesund zu leben?" gibt es nicht.

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