Trotz Bürokratie und Zeitmangel

Wir müssen zurück zur Medizin der Zuwendung!

Der Zeitdruck in Kliniken und Praxen belastet Ärzte und Pflegende enorm. Aber auch angesichts widriger Arbeitsbedingungen dürfen sie nicht kapitulieren, sondern sollten zu ihrer ureigenen Aufgabe zurückfinden: der Zuwendung zum Patienten.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Ärztin und Pflegekraft im Hospiz Villa Auguste in Leipzig: harte Arbeit, die aber offenbar zufrieden macht.

Ärztin und Pflegekraft im Hospiz Villa Auguste in Leipzig: harte Arbeit, die aber offenbar zufrieden macht.

© Grubitzsch ZB / dpa

NEU-ISENBURG. Seltsam, dass oft ausgerechnet die Ärzte und Pflegenden am meisten strahlen, deren Arbeit keinen Erfolg im klassischen Sinne hat. Zum Beispiel im Kinderhospiz Löwenherz in Syke bei Bremen. Die Diagnosen der Kinder sind weiß Gott kein Anlass für blendende Laune.

Aber die Kooperation, die Atmosphäre im Haus, der Umgang miteinander und den Patienten sind geprägt von einer besonderen Leichtigkeit, so die Beobachtung des Besuchers. Oder im ambulanten Palliativdienst Ammerland/Uplengen in Westerstede.

Die Pflegenden, die sich hier regelmäßig auf den Weg zu schwer Leidenden und Sterbenden und ihren Familien machen, haben mir gesagt: "Es ist so toll hier! Wir sind so dankbar, dass wir das machen können." Es ist kein Geheimnis, dass solche Sätze in vielen Kliniken oder Pflegeheimen selten fallen.

Der Freiburger Medizinethiker Professor Giovanni Maio hat kürzlich ein Buch heraus gebracht mit dem Titel "Den kranken Menschen verstehen - Für eine Medizin der Zuwendung".

Das Buch sei aus der Erfahrung entstanden, "dass die moderne Medizin sich vom Einlassen auf den Patienten immer mehr verabschiedet hat und sich mehr und mehr industrialisiert", hat Maio im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" gesagt.

Technisierung, Dokumentationswut, Ärztemangel, Ökonomisierung und die schiere Wissenschaft am Krankenbett seien eine ungute Allianz eingegangen, mit dem Ergebnis, dass sich die Haltungen von Pflegenden und Ärzten am Krankenbett fast unmerklich verändert hätten: "Verrichten, Messen, Prüfen, Nachweisen - all das wird heute verlangt", so Maio. Und das sei entscheidend zu wenig.

Quälende Einsichten

Die Nachricht des Buches hat er schon bei vielen Gelegenheiten zur Sprache gebracht und nicht nur er. Mancher Arzt, der unter seinen Klinikroutinen ächzt, dürfte verstört die Stirn runzeln bei der Position, die Maio vertritt. Wenn ein Arzt, sei es in Klinik oder Praxis, nicht verrichtet, misst, prüft und nachweist, bekommt er Ärger statt Honorar.

So werden Beiträge wie der von Maio von manchen in der Ärzteschaft offenbar ungern gehört. Auf dem 116. Deutschen Ärztetag in Hannover zum Beispiel sprach er über die Grenze zwischen Markt und Medizin und erläuterte im Prinzip das, was auch in seinem neuen Buch steht.

Mit warmen Applaus bedachten die Delegierten zwar den Vortrag und nahmen in mehreren Wortmeldungen Bezug auf ihn. Aber in der Zusammenfassung der Ärztetagsergebnisse durch die Bundesärztekammer kommt sein Beitrag schon nicht mehr vor. Warum eigentlich nicht?

Entweder der ärztliche Alltag ist anders gestrickt, als Maio ihn beschreibt, und man applaudierte eher höflich als überzeugt. Und zu diskutieren wäre ja in der Tat, ob so etwas wie eine weite Kurve auf der Wende zu einer zugewandteren Medizin schon längst begonnen hat.

Oder Maios Buch berührt eine quälende Einsicht, die viele Ärzte ohnedies haben: dass sie sich oft nicht mehr so ihren Patienten zuwenden, wie sie es gerne täten - und verständlicherweise ungern daran erinnert werden. Ich vermute Letzteres.

Wer keine Verantwortung übernimmt, lernt nicht

Die Frage ist nun, ob das zu ändern ist, wie also Ärzte wieder zu ihrer ureigenen Sache der Zuwendung kommen können. Zu Recht verweist auch Maio auf manchmal extreme Arbeitsbedingungen von Ärzten, die einfach keinen Platz mehr lassen für Gespräche mit Patienten, für Zuwendung und das Bemühen, zu verstehen.

Trotzdem hat es keinen Wert, die Verantwortung an die Verhältnisse zu übertragen, so sehr es auch zuträfe. Was wäre denn gewonnen, wenn Ärzte sagten: "Die Arbeitsbedingungen sind so widrig, dass wir uns nicht mehr zuwenden können, tut uns sehr leid"?

Oder: "Wir können erst wieder Patientengespräche ausführlich führen, wenn wir mehr Zeit und mehr Geld bekommen"? Nichts wäre gewonnen, natürlich nichts.

Nein - wer Verantwortung übernimmt, braucht nicht zu fürchten, dass man ihm die Schuld für die Verhältnisse in die Schuhe schieben will. Im Gegenteil. Wer Verantwortung übernimmt, wird handlungsfähig und sucht neue Ressourcen, um mehr Zuwendung zu ermöglichen.

Wer dagegen keine Verantwortung für die fehlende Zuwendung tragen will, dem bleiben die Hände gebunden, denn er ist ja nicht beteiligt an den Problemen. Was sollte er da anders machen? Mehr noch: Wer keine Verantwortung übernimmt, lernt auch nichts, er hat ja keine Fehler gemacht.

Was könnte der Fehlerfreie noch lernen? Im Übrigen könnte man ihm auch keine Fehler mehr entschuldigen. Er ist ja nicht verantwortlich, er war ja nicht dabei. Kurz: Wer nicht Teil des Problems ist, ist auch nicht Teil der Lösung.

Dieser Zusammenhang gilt natürlich auch für Palliativdienste oder Hospize. Vielleicht erleben die Mitarbeiter dort aber ihre Arbeit deshalb öfter anders, weil sie vom Druck befreit sind, Leben zu retten oder verlängern zu müssen. So entsteht plötzlich Platz für Zuwendung.

Aber die Palliativmedizin ist anderen Disziplinen in Sachen Zuwendung wohl vor allem deshalb voraus, weil sie schlicht besser bezahlt und so als wesentlicher Teil der Medizin anerkannt wird. So gesehen sollte die Palliativmedizin als Avantgarde gelten.

So lange aber Zuwendung und Patientengespräch in anderen Disziplinen finanziell nicht besser berücksichtigt werden und so der Palliativmedizin folgen können, bleiben die Patienten auf das Zusatz-Engagement ihrer Ärzte angewiesen.

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