Vorfall, nicht Fehler!

Lern- und Berichtssysteme sind kein Pranger

Ein Lern- und Berichtssystem für kritische Ereignisse (CIRS) ist auch im ambulanten Bereich hilfreich. Darin waren sich Gesundheitsexperten beim CIRS-NRW-Gipfel in Münster einig. Wichtig ist dabei, auch in kleinen Praxisbetrieben die Anonymität zu wahren.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
CIRS sollen fehlerhaftes Verhalten erkennen und verhindern, dass Vorfälle sich wiederholen – das geht am besten anonym.

CIRS sollen fehlerhaftes Verhalten erkennen und verhindern, dass Vorfälle sich wiederholen – das geht am besten anonym.

© vege / stock.adobe.com

Manche niedergelassenen Ärzte glauben, dass die Einführung eines Lern- und Berichtssystems für kritische Ereignisse nur für größere Einrichtungen wie Krankenhäuser Sinn macht, weil in Arztpraxen besondere Vorfälle sofort besprochen werden. Das ist ein Irrtum, glaubt Michael Wörster, Bereichsleiter ambulante Versorgung am St. Marienkrankenhaus Siegen. "Im niedergelassenen Bereich gibt es im Tagesablauf überhaupt keine Zeit, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen", sagte er auf dem 5. CIRS-NRW-Gipfel in Münster.

Wörster hat in dem klinikeigenen Medizinischen Versorgungszentrum, das 25 Fachärzte aus 17 Fachrichtungen beschäftigt, ein Critical Incident Reporting System (CIRS) eingeführt. Er nannte neben der Sicherheitskultur einen weiteren wichtigen Grund für diesen Schritt. "Wir erleben, dass die Fallschwere im ambulanten Bereich immer mehr zunimmt." In der Strahlentherapie seien vor zehn Jahren noch 90 Prozent der Fälle stationär versorgt worden, jetzt seien es nur noch zehn Prozent. Ähnlich sehe es in der Onkologie aus.

Geschützter anonymer Raum

Arztpraxen sollten sich an etablierten öffentlichen Systemen wie CIRS-NRW oder "Jeder Fehler zählt" beteiligen, empfahl auch Dr. Markus Holtel von den Christophorus-Kliniken Coesfeld-Dülmen-Nottuln. Denn in einer kleinen Einheit wie der Arztpraxis sei es schwierig, in einem eigenen System die Anonymität der Melder zu wahren. Zudem sei der Aufwand für eine Einzelpraxis sehr groß.

Ein entscheidender Faktor für den Erfolg eines CIRS-Systems sei, dass die Melder möglichst schnell ein Feedback bekommen, berichtete Holtel. Sie sollten sehen, dass ihr Bericht Eingang ins System findet und besprochen wird. "Wenn Abhilfe für einen Fehler gefunden wird, sollte das auch kommuniziert werden", sagte der Anästhesist und Notarzt.

CIRS-NRW ist Ende Oktober 2012 ins Leben gerufen worden, es ist das einzige sektorübergreifende Berichtsystem in der Bundesrepublik. Beteiligt sind die beiden Ärztekammern, die KVen und die Landeskrankenhausgesellschaft KGNW. Am 8. November 2017 ist der 1000. Bericht eingegangen.

"Alle reden über das sektorübergreifende Arbeiten, wir tun's", betonte der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe Dr. Theodor Windhorst. Entscheidend ist für ihn, dass CIRS als geschützter anonymer Raum funktioniert. Die Initiatoren haben aus der Erfahrung gelernt, dass in der Startphase Staatsanwälte in einem Fall die Aufhebung der Anonymität erzwungen hatten: Fälle, in denen Patienten zu Schaden gekommen sind, werden nicht mehr eingestellt.

CIRS-NRW sei eine Plattform für Beinahe-Fehler, sagte KGNW-Geschäftsführer Matthias Blum. "Es ist kein Pranger, sondern es geht darum, dass sich kritische Ereignisse bei anderen nicht wiederholen." Blum hofft, dass die Kommentarfunktion des Systems in Zukunft stärker genutzt wird, mit der Nutzer über ähnliche Erfahrungen wie die geschilderten berichten können. Er warb dafür, das System durch viele weitere Meldungen mit Leben zu füllen. "Dinge, die beinahe daneben gegangen wären, gibt es genug."

Noch Luft nach oben

"Jeder muss seine Fehler selbst machen": Diese Alltagsweisheit gelte im Gesundheitswesen nicht, betonte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) Dr. Wolfgang-Axel Dryden. Die KVWL hat 2010 ein eigenes CIRS auf den Weg gebracht. Doch die niedergelassenen Ärzte waren eher zögerlich und zurückhaltend. Dryden nannte einen wichtigen Grund: "die Sorge um forensische und versicherungsrechtliche Konsequenzen". Er hält es für sinnvoller, in dem Zusammenhang von "Vorfällen" statt von "Fehlern" zu reden. "Eine andere Begrifflichkeit kann die Hürden senken."

Die Zahl der Meldungen von niedergelassenen Ärzten ist immer noch vergleichsweise gering. Zwar sei sie inzwischen von rund fünf Prozent am Anfang auf mittlerweile gut zehn Prozent gestiegen, berichtete Miriam Mauss, Leiterin der Abteilung Qualitätssicherung bei der KV Nordrhein. "Aber es ist noch Luft nach oben."

Im ersten Berichtsjahr von November 2012 bis Oktober 2013 gingen 93 Berichte über kritische Ereignisse bei CIRS-NRW ein, ein Jahr später 89. In den zurückliegenden zwölf Monaten gab es mit 358 Berichten einen Höchststand. Als begünstigende Faktoren für die Entstehung solcher Ereignisse steht mit 56,7 Prozent der Bereich Organisation klar an der Spitze. "Das Gute daran ist: Das kann man ändern", betonte ÄKWL-Präsident Windhorst.

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