Polypharmazie

Je mehr Arzt, desto Pille

Eine Studie zeigt das wahre Ausmaß von Polypharmazie bei alten Patienten: Je mehr Ärzte die Patienten behandeln, desto gravierender ist das Problem. Helfen kann ein "Zehn-Minuten-Review".

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Ungesunder Cocktail: Forscher vermissen Langfrist-Strategie zur Bekämpfung der Polypharmazie.

Ungesunder Cocktail: Forscher vermissen Langfrist-Strategie zur Bekämpfung der Polypharmazie.

© Robert Kneschke / shutterstock.com

BREMEN. Je mehr Ärzte an der Behandlung beteiligt sind und je älter der Patient ist, desto ist das Risiko von Polypharmazie. Das zeigt eine Erhebung bei Versicherten der Krankenkasse hkk im Großraum Oldenburg/ Bremen.

Nach Schätzungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm) sind Wechsel- und Nebenwirkungen von Medikamenten jedes Jahr ursächlich für bis zu 300.000 Krankenhausaufnahmen.

"Weil es sich dabei vor allem um ältere sowie chronisch erkrankte Menschen handelt, wird sich das Problem mit der demografischen Entwicklung noch verschärfen", hieß es.

Grundlage der Untersuchung seien alle hkk-Versicherten gewesen, die im Jahr 2010 Arzneimittel verordnet bekamen. Ausgewertet wurden die Daten anonym vom Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung (BIAG).

Rezeptfreie Arzneien nicht gezählt

Mehr als 60 Prozent der hkk-Mitglieder ab 65 Jahren, denen 2010 ein Medikament verschrieben wurde, seien von Polypharmazie betroffen, hieß es.

"Da die Verordnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen keine frei verkäuflichen Arzneimittel berücksichtigen, ist bei dieser und den folgenden Fragestellungen sogar von noch höheren Zahlen auszugehen", so die Kasse.

Bei 25,3 Prozent der hkk-Versicherten, denen im Jahr 2010 Arzneimittel verschrieben wurden, wurden im gleichen Jahr mindestens 20 Krankheiten diagnostiziert. Nahmen die Patienten fünf bis zehn Arzneimittel gleichzeitig ein, stieg der Anteil der von Multimorbidität Betroffenen auf 41,9 Prozent.

Bei elf bis 15 Arzneimitteln erhöhte sich diese Zahl auf 55,8 Prozent, bei 16 und mehr Arzneimitteln sogar auf 82,4 Prozent.

Auch mehrere behandelnde Ärzte bedeuten ein höheres Polypharmazie-Risiko. Wurden Patienten nur von einem Arzt behandelt, betrug der Anteil der Polypharmazie Betroffenen zehn Prozent.

Bei zwei behandelnden Ärzten stieg der Anteil der Patienten mit Polypharmazie auf 30,8 Prozent, bei vier Ärzten waren sogar 79,1 Prozent der entsprechenden Patientengruppe betroffen.

Mehr Problembewusstsein nötig

Zudem begünstige Polypharmazie Vergiftungen von Patienten. 2010 wurde bei 226 stationär behandelten hkk-Versicherten eine Vergiftung festgestellt, an denen mindestens ein ärztlich verordnetes Arzneimittel beteiligt war, berichtete die Krankenkasse.

Von diesen Patienten waren 71,2 Prozent von Polypharmazie betroffen. Um dem Problem beizukommen "müsste zunächst das Problembewusstsein sowohl bei Ärzten als auch Patienten geschärft werden", meint Dr. Bernard Braun vom BIAG und dem Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen.

Der Wissenschaftler vermisst eine "langfristige Strategie" aus Information, stärkerer Einbindung der Apotheken und aus Leitlinien zur Behandlung von multimorbiden Patienten.

Außerdem sollten Hausärzte bei Patienten mit Polypharmazie regelmäßig "Zehn-Minuten-Reviews" durchführen, erklärte Braun, um Zahl und Art von Arzneimitteln zu reduzieren und kontraindizierte Arzneimittel zu vermeiden.

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