In der Praxis im Kiez geht's nicht nur um Medizin

BERLIN. Sie betreiben eine große Allgemeinarztpraxis mitten im Kiez von Kreuzberg, und sie haben eine Vision: Die Zwillingsbrüder Dr. Thomas und Dr. Stefan Minks setzen auf Ganzheitsmedizin, auf die Qualität ihrer Arbeit und die Kraft ihrer Argumente: Selbstbestimmt sollen Patienten Verantwortung übernehmen - für ihren Körper und für ihre Psyche.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Zwillingsbrüder mit konkreten Visionen als Allgemeinärzte: Stefan und Thomas Minks (v.l.).

Zwillingsbrüder mit konkreten Visionen als Allgemeinärzte: Stefan und Thomas Minks (v.l.).

© Fotos: Stricker/fuh

Die Luckauer Strasse in Berlin-Kreuzberg: eine schöne Wohngegend in der Hauptstadt sieht anders aus. Das 1870 gebaute Haus mit der Nummer 4 passt nahtlos in dieses Ambiente. Konfuse Graffiti-Botschaften an den Außenwänden, tristes Exterieur. In dieser Gegend leben meist Menschen mit geringem Einkommen, viele haben einen Migrations-Hintergrund. "Wir wissen, dass in der Luckauer Strasse 4 seit mindestens 100 Jahren immer Ärzte gearbeitet haben", sagt Thomas Minks, der mit seinem Bruder die Arztpraxis 1993 übernommen hat.

Poster und markante Skulpturen

Trist sieht das Gebäude tatsächlich nur von außen aus. Die Praxis der Minks im Inneren setzt ganz andere Akzente: Es gibt viele große Räume mit schönem Stuck an der Decke, eine Etage, auf der gleich mehrere Wohnungen zusammengelegt worden sind. Hier ist unendlich viel Platz - für Behandlungszimmer, für Ruheräume, für Diagnose und Therapie. Überall ist Kunst zu sehen, die neugierig macht - Riesenposter zum Beispiel von Roy Lichtenstein aus dem Museum of Modern Art in New York, Bilder, markante Skulpturen. Und Patienten, überall Patienten.

In diesen Räumen werden Tag für Tag Menschen aus extrem unterschiedlichen Kulturkreisen behandelt. Hier wird gezweifelt und gelitten, hier fließen manchmal Tränen, hier gibt's Enttäuschung und Hoffnung, hier wird gescherzt und gelacht - die Arztpraxis spiegelt das bunte, oft widersprüchliche Leben im Kiez.

Ganzheitsmedizin - den ganzen Menschen erfassen, das ist das erklärte Ziel der Brüder Minks. Sie ergänzen in ihrer Praxis die klassische Schulmedizin um Erfahrungen und Verfahren aus dem Bereich der Psychosomatik, der Chirotherapie, der Sportmedizin und Naturheilverfahren, sie bieten Homöopathie, klassische chinesische Medizin und Akupunktur.

"Patienten werden bei uns nur dann alternativ behandelt, wenn vorher alles schulmedizinisch abgeklärt worden ist", sagt Stefan Minks. Die diagnostischen Möglichkeiten der Schulmedizin findet er "immer noch faszinierend". "Bei einem ganzheitlichen Konzept", sagt er, "kann ohnehin nur eines gelten: je mehr an Informationen ich über einen Patienten habe, um so besser kann ich behandeln".

Arbeitsalltag in der Praxis: Da ist zum Beispiel der frühere Kampf- und Kraftsportler mit starken Schmerzen an der Lendenwirbelsäule, der deshalb nachts nicht mehr schlafen kann und zunehmend depressiv wird. Nachdem diagnostisch alles abgeklärt worden ist, soll jetzt mit Akupunktur versucht werden, seine Schmerzen zu lindern.

Da ist der 16-Jährige mit den Schmerzen im Fußgelenk, der - wie seine Mutter einräumt - viel zu oft über Stunden am PC sitzt und dem Thomas Minks nach einer Untersuchung dringend mehr Bewegung empfiehlt, weil die Muskulatur für sein Alter ungewöhnlich schlecht entwickelt ist. "Du wächst noch", mahnt er, "tu dringend mehr für deine Körperhaltung!"

Da ist die Frau im Dauerstress mit schwerkrankem Mann, die nicht nur zehn Kilo zugenommen hat, sondern sich leidenschaftlich gerne Abend für Abend ein Fläschchen Wein gönnt, und große Schwierigkeiten hat, von diesem Laster zu lassen. Auch bei ihr ist eine umfassende Vordiagnose gemacht worden, auch bei ihr soll Akupunktur helfen, um den Stoffwechsel anzuregen und die Sucht zu bekämpfen.

"Ich spüre, dass der Job Spaß macht"

"Die Ärzte hier verstehen etwas von ihrer Arbeit, sie zeigen Empathie und können sich in meine Probleme hineinversetzen. Ich spüre, dass ihr Job ihnen Spaß macht", sagt ein Patient aus dem Stadtteil Mitte, der seit Jahren in die Praxis kommt und sich hier gut aufgehoben fühlt. Eine Erfahrung, die er offenbar mit anderen teilt. "Wir kommen auf 2500 bis 3000 Scheine pro Quartal, manchmal sind es auch deutlich weniger", erläutert Stefan Minks, "wir bilden uns häufig fort, machen aber zwischendurch auch genügend Urlaub, um uns zu regenerieren."

Die schöne neue Versorgungswelt sehen die Zwillinge eher skeptisch. Mit Ärztenetzen etwa können sie wenig anfangen. "Wir haben hier im Einzugsbereich unserer Praxis viele Fachärzte, mit denen Kooperation prima funktioniert. Wieso sollte das formalisiert werden?", fragen sie.

Medizinische Versorgungszentren? "Die Erfahrungen aus der DDR zeigen doch, dass sich Patienten nicht wirklich glücklich fühlen."

Systemausstieg? "Wir glauben nicht, dass das der richtige Weg ist. Wir setzen, trotz vieler Unzulänglichkeiten, auf die KV".

Disease Management? "Wenn uns jemand beweist, dass DMP tatsächlich etwas bringen, dann sind wir die ersten, die mitmachen. Aber ich habe Zweifel und kann nicht einsehen, dass Geld, das wir für die niedergelassene Medizin brauchen, irgendwo im Bürokratieapparat der Krankenkassen verpulvert wird", sagt Stefan Minks.

Überhaupt: die Bürokratie. Eine umfassende Dokumentation halten die Brüder für überaus wichtig. "Aber alles noch besser machen mit noch mehr Papier und noch mehr Bürokratie - das geht nicht!"

Thomas und Stefan Minks können exakt definieren, was ihnen mit Blick auf ihre Arbeit wichtig ist: "Wir wollen die Patienten dazu führen, selbst Verantwortung zu tragen - für ihren Körper, und für ihren Geist".

Das heißt konkret: Alles, was mit der Lebensführung zu tun hat, muss mit dem Patienten besprochen werden. Lebensführung - das bedeutet aus ihrer Sicht: Diäten einhalten, sich bewegen und Sport treiben, sich gesund ernähren, regelmäßig zur Vorsorge gehen, bei Problemen zum Hausarzt zu kommen, der, wenn nötig, weiter überweist zu anderen Fachärzten. "Wir setzen auf eigenständige Patienten", sagen die Minks. Und dieses Credo habe durchaus Perspektive.

Ihre Erfahrung: Es gibt immer mehr gut informierte Menschen, die sich mit Blick auf ihre eigenen medizinischen Probleme bestens auskennen und die bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Der Knackpunkt aus Sicht von Stefan Minks: "Einen Anreiz für Ärzte, Patienten auf den Weg zu einer stärkeren Selbstverantwortung zu führen, kennt das System nicht."

Auch im Praxisalltag ist Solidarität gefragt

Selbstverantwortung hat ihre Grenzen. Das wissen die Minks. In ihrer Praxis gibt es einen Raum für Menschen, die dringend Orientierung und soziale Hilfe brauchen. "Viele Anwohner hier im Kiez können nicht lesen und schreiben, wir helfen beim Ausfüllen von Rentenanträgen oder komplizierten Formularen. Und manchmal hören wir auch nur geduldig zu", sagt Thomas Minks. "Das ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit sein", stellt er klar. "Das hat etwas mit Solidarität zu tun."

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