"Regionale Versorgungskonzepte - das werden die KVen nicht leisten können"

Der Chef des NAV-Virchowbundes Dr. Klaus Bittmann wirft den KVen konzeptionelle "Wagenburg-Mentalität" vor. Anstöße für neue Versorgungskonzepte erwartet er vor allem von den freien Verbänden.

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Dr. Klaus Bittmann, Bundesvorsitzender des NAV-Virchowbundes: "Wenn wir nur auf den Kollektivvertrag pochen, dann wird es für die Ärzte ungemütlicher werden."

Ärzte Zeitung: Herr Bittmann, am Dienstag hat die alte und neue Bundeskanzlerin ihre Regierungserklärung gehalten. Sind sie zufrieden mit dem, was sie bislang gesehen, gehört und gelesen haben?

Bittmann: Wir befinden uns momentan noch in einer Phase der Kaffeesatzleserei. Das gilt sowohl für den Koalitionsvertrag als auch für die Regierungserklärung. Hoffentlich wird Angela Merkels Appell an die Freiheitlichkeit aber ein Grundtenor für die Gesundheitspolitik der neuen Koalition sein.

Ärzte Zeitung: Was heißt hoffentlich, und was muss aus Ihrer Sicht erfolgen?

Bittmann: Die Regierung steht vor großen Herausforderungen bei Steuern, Finanzen und dem Arbeitsmarkt. Das wird die Spielräume bestimmen. Für den Gesundheitssektor heißt das, dass wir mehr auf Eigenverantwortung werden setzen müssen, auch in der Finanzierung, und das sowohl bei Patienten als auch bei den Medizinern. Die Ärzteschaft wird sehr präzise und möglichst geschlossen darlegen müssen, wie sie sich die Versorgung bei weiter begrenzten Finanzierungsmitteln vorstellt und welche Initiativen sie ergreifen will.

Ärzte Zeitung: Die Koalition will die Vergütungssystematik der niedergelassenen Ärzte auf den Prüfstand stellen. Was erwarten Sie hiervon?

Bittmann: Es ist schon einmal ein Lichtblick, dass die neue Koalition das Honorarsystem nicht für gut erachtet. Klar ist: Dieses Konstrukt aus RLV, Sonderleistungen und extrabudgetären Leistungen ist kein Honorarsystem für einen freien Beruf, sondern ein Desaster. Das ist schlimmer als bei tarifabhängigen Lohnempfängern. Die wissen, was sie pro Stunde erhalten. Und wenn es ihnen nicht passt, können sie streiken.

Ärzte Zeitung: Was könnte die Alternative sein, etwa die - Rückkehr zur - Einzelleistungsvergütung?

Bittmann: Ich könnte mir vorstellen, dass wir in eine Einzelleistungsvergütung überwechseln, die ihre Grenze in der Finanzkraft der jeweiligen Krankenkasse findet. Ob das aber, auch unter dieser Regierung, machbar sein wird, ist fraglich. Außerdem müssten sich die Honorarflüsse in einem solchen System dann auch an Behandlungspfaden orientieren, die weit über Disease-Management-Programme hinausgehen und über alle Sektoren hinweg ein Ergebnis zum Ziel haben: die beste Versorgung für den Patienten.

Ärzte Zeitung: Schwarz-Gelb hält an Einzelverträgen fest, vorerst auch an Hausarztverträgen mit Erstabschlussrecht des Hausärzteverbands. Welche Rolle können Verbände wie der NAV-Virchowbund, der in diesen Tagen 60 Jahre alt wird, im Spannungsfeld zwischen Kollektivvertrag und Selektivvertragswelt spielen?

Bittmann: Unsere Aufgabe wird es sein, Lösungen für regionale und sektorenübergreifende Versorgungskonzepte anzubieten. Ich glaube, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen dies zumindest derzeit nicht leisten können.

Ärzte Zeitung: Was meinen Sie konkret?

Bittmann: Bei Hausarztverträgen hat man diese konzeptionelle Schwäche und Wagenburg-Mentalität der KV-Welt ja beobachten können. Jahrelang haben sie das Instrument selbst nicht angepackt. Wenn wir als Ärzte aber unsere Freiberuflichkeit ernst nehmen, dann kann man sich nicht einfach zurücklehnen und nach dem Motto verfahren: Alles, was uns nicht schmeckt, kommt weg. Da müssen wir unsere Suppe schon selbst kochen. Wenn wir nur auf den Kollektivvertrag pochen, dann wird es für die Ärzte ungemütlicher werden. Ich begreife es als Aufgabe von Verbänden wie unserem, die Ärzteschaft auf diesem Weg zu begleiten.

Ärzte Zeitung: Die Koalition will das Dickicht der unterschiedlichsten Regelungen zur Arzneimittelversorgung lichten. Was sind Ihre Forderungen? Bittmann: Ich halte es für völlig richtig, dass die Koalition an dieses undurchschaubare System herangehen will. Kurzfristige Lösungen sind allerdings wohl eher nicht zu erwarten. Ärzte Zeitung: Eine kurzfristige Lösung könnte der Vorschlag von KBV-Chef Köhler sein, die finanzielle Verantwortung für die Arzneimittelversorgung in die Hände von Apothekern, Kassen und Industrie zu übergeben. Bittmann: Ich habe hierfür überhaupt kein Verständnis. Die KBV bedient verständliche Aversionen der Ärzteschaft auf diesem Feld. Es wäre aber zu kurz gesprungen, wenn die Ärzteschaft ihre Therapie- und Verordnungshoheit aus Frust und Resignation abtritt. Der Arzt darf nicht gleichgültig werden darüber, welches Medikament sein Patient erhält. Allerdings ist eine Reform der Haftungs- und Regressregelungen dringend geboten.

Die Fragen stellte Bülent Erdogan.

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