Hintergrund

Priorisierung erhitzt weiter die Gemüter

Knapp zwei Jahre nach der "Priorisierungsdebatte" bleibt das Thema auf der Agenda. BÄK-Präsident Hoppe spricht lieber von "Prioritäten-Setzung".

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:

Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der BÄK und LÄK Nordrhein

© Schlingensiepen

Barbara Steffens, Grüne, Gesundheitsministerin NRW

© sepp spiegl / imago

Eigentlich will Professor Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer und der Ärztekammer Nordrhein (ÄKNo), den Begriff "Priorisierung" gar nicht mehr benutzen. Aber das ließ sich bei der Diskussion auf dem "Forum Gesundheit 2011" der ÄKNo-Kreisstelle Mülheim nicht vermeiden.

 Schließlich stand das Thema "Medizin nur noch nach Kassenlage? Priorisierung - Rationierung - Budgetierung" auf dem Programm.

"Priorisierung ist ein wissenschaftlicher Begriff, aber in Deutschland durch gezielte Propaganda madig gemacht worden", sagte Hoppe. "Deshalb benutze ich ihn nicht mehr, sondern rede von Prioritäten-Setzung." Diese Bezeichnung sei verständlicher, denn in jedem Haushalt würden Prioritäten gesetzt.

Egal welcher Begriff gewählt wird - im deutschen Gesundheitssystem führt nach Ansicht Hoppes an der Debatte über die Verteilung medizinischer Leistungen angesichts knapper Kassen kein Weg vorbei. Das Kernproblem sei die versteckte Rationierung, die bereits breit praktiziert werde.

Die Gefahr dabei sei, dass manche Patienten überhaupt nicht mehr behandelt werden, warnte Hoppe. "Diejenigen, die sich nicht wehren können, werden es als erste spüren."

Der ÄKNo-Präsident schlug erneut die Bildung eines Gesundheitsrates mit einer breiten gesellschaftlichen Verankerung vor, der über Priorisierungs-Fragen entscheidet. "Das wäre eine Methode, um die Rationierungsdebatte aus den Arztpraxen heraus zu bringen", sagte er. Die Priorisierung werde den Ärzten erhebliche Entlastungen bringen.

Priorisierung soll das System nicht zerstören

NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) und Cornelia Prüfer-Storcks, seit kurzem Gesundheitssenatorin in Hamburg, lehnen die Priorisierungsdebatte ab. "Damit fangen wir an, ein System zu zersägen, das immer noch eins der besten der Welt ist", sagte Steffens.

Ihrer Meinung nach gibt es keinen Zweifel daran, dass für das Gesundheitswesen angesichts der demografischen Entwicklung künftig mehr Geld aufgewandt werden muss. Die wichtigste Aufgabe besteht in ihren Augen aber zunächst darin, Ineffizienzen im System zu beseitigen. Dabei hat Steffens vor allem die Schnittstellenprobleme zwischen den Sektoren im Blick und zwischen der Kranken- und der Pflegeversicherung. "Wenn wir die Strukturen nicht hinterfragen, wird uns das System dermaßen um die Ohren fliegen, dass wir die Versorgung nicht mehr gewährleisten können", warnte sie.

Auch die Verteilung innerhalb des Systems müsse schnell auf den Prüfstand. Es sei nicht einzusehen, warum die sprechende Medizin im Vergleich zu anderen Leistungen so unterbewertet ist, sagte die Ministerin. "Wir müssen nachsehen, wo wir heute im System Geld verbrennen."

Prüfer-Storcks verspricht sich viel davon, Entscheidungen über den Leistungskatalog der Krankenkassen stärker unter Qualitäts-Aspekten zu treffen. "Nichts ist so teuer wie eine schlechte Behandlung", sagte sie. Medizinisch sinnlose Leistungen sollten nicht am Ende einer Prioritätenliste stehen, sondern von den Kassen überhaupt nicht bezahlt werden. "Bei sinnvollen Leistungen möchte ich keine Prioritäten setzen", betonte Prüfer-Storcks. Ihre Befürchtung: "Ich glaube, dass bei Priorisierung Unsinn heraus kommt."

Kassen fallen Ärzten schon heute in den Rücken

Auch der Bischof von Essen, Dr. Franz-Josef Overbeck, sieht die Debatte über die Bildung von Hierarchien für medizinische Leistungen skeptisch. "Priorisierung widerspricht der Menschenwürde", sagte er. Besser vorstellen kann er sich ein System, das zwischen einer Grundversicherung für alle unterscheidet, und Zusatzleistungen, die jeder selbst finanzieren muss.

Die Einschätzung Hoppes, dass Priorisierungs-Entscheidungen notwendig sind, um das Arzt-Patienten-Verhältnis zu entlasten, teilt Overbeck nicht. "Ich würde dagegen sein, Ärzten vorzuschreiben, wie sie zu entscheiden haben."

Die Niedergelassenen seien es aber leid, immer den Schwarzen Peter zu haben und erklären zu müssen, welche Leistungen Patienten nicht mehr bekommen, sagte eine Ärztin. Die Kassen würden den Ärzten dabei meistens in den Rücken fallen, kritisierte sie.

Genau dieses Verhalten der Kassen beeinträchtige das Arzt-Patienten-Verhältnis, bestätigte der Hausarzt Uwe Brock, Vorsitzender der ÄKNo-Kreisstelle Mülheim. "Wir haben es satt, dass die Patienten von den Kassen immer wieder hören: Das entscheidet der Arzt."

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